27. September 2022 – von Michael Held

Die Welt aber trottet ihren üblichen Gang. Regenschauer gehen nieder, spülen letzte Traumreste fort. Der Wecker lärmt unbarmherzig. Staub in den Bücherregalen, abgestandene Erinnerungen, gebunden. Der Tag wird heute nicht.

Wolken, Käfer. Ianina Ilitcheva liegt aufgeschlagen neben dem Bett. Gedanken über die Archive verstrichener Zeit, und wo die Erinnerung ablegen, wenn der Upload in die Cloud nicht funktioniert. Schon viel zu lange war ich nicht mehr in der Bibliothek, leer stehen die Museen, warten auf Besuch, die Stratocaster schläft im Koffer, das Schrei(b)en kommt nicht voran. Ein Arbeitstag, dann noch einer, und irgendwann der süße Tod.

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Es gibt dieses eine Foto von dem Baum vor dem Haus. Sommer, dramatische Wolken. Auf der Anrichte das alte Handy, das Display sternförmig gesplittert. Das neue hat eine bessere Kamera, aber. Ich blättere durch die Alben, das Museum, die Silhouette im Gegenlicht. Wie all unsere Leben seitwärts weiterlaufen, entgleiten. Zwei Geraden schneiden sich im Unendlichen, aber. Welches Leben ist schon gerade.

Zähne putzen, Wasser lassen, Dusche. Die Heizung noch aus, die Handtücher sind klamm, von gestern vormittag. Schlüssel, Geldbörse, Kopfhörer. An den Haltestellen Morgengesichter. Die Zeitung kündet Krieg.

Blick in fremde Küchen, Wohnzimmer, vom Bahndamm aus. Ob die Leute in den Häusern ihre Leben choreographieren, alle fünfzehn Minuten, für die Zuschauer im Zug. Aber das Leben ist keine Erzählung von Sarah Berger, zumindest im Moment nicht. Die Decke kommt trotzdem näher.

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Bürofensterperspektiven. Blick über Flussauen, Industriegebäude, die Schatten der Pappeln, am Horizont. Langsam füllt sich der See wieder auf, verschwinden die Sandbänke des Sommers. Bald schon die ersten Enten, aus ihren sibirischen Sommerquartieren. Wenn sie zurückkehren, im Frühjahr, werden sie die Landstriche geleert vorfinden, die Männer verschwunden, Frauen und Kinder unbekannt verzogen.       

Mittagspause, der Kollege übergibt sich in den Papierkorb. Covid-Tests sind alle, auch der Supermarkt um die Ecke hat keine mehr. Der Regen strömt die Scheiben hinab. Tickets werden eröffnet, unmotiviert hin- und hergeschoben, geschlossen. Irgendwann ist Feierabend.

Ein Sonnenstrahl kämpft sich durch die Wolken, beleuchtet die spiegelnde Fläche des Sees. Im Hintergrund die Berge, weiß, unbeteiligt. Hinter den Bergen sitzt Benito Mussolini an seinem Schreibtisch, streicht über das abgetragene Leder, betrachtet den gewohnten Ausblick. Kein Grund zur Panik, schreibt die FAZ in bester Steigbügelmanier, als wäre es 1922. Die Welt geht ihren gewohnten Gang.

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