Es ist noch dunkel, als ich aufwache. Daran muss ich mich erst wieder gewöhnen. Während allmählich das Licht in den Tag sickert, verblassen die letzten Träume. Schon weiß ich nur noch, dass ich geträumt habe und nicht mehr, was. Ich fische nach den flüchtigen Träumen wie nach den Wollsocken, die über Nacht meine Füße verlassen haben.
Bei Twitter sehe ich unzählige Male, wie in einem provozierten Crash ein Asteroid getroffen wird. Alles staunt. Der Weltraum verbindet.
In der Küche indes gleich doppeltes Unbill: Die Butter ist aus. Die Mäuse sind da. Ersteres lässt sich durch einen Besuch beim hiesigen Lebensmitteleinzelhandel lösen. Letzteres erfordert einen Anruf bei der Hausverwaltung, die den Kammerjäger schicken muss. Viel kann er nicht machen im Altbau mit Holzbalkendecken und vielen Verbindungsgängen zwischen den Räumen. Aber zuletzt wirkte seine reine Präsenz einschüchternd auf die Nager.
Kaffee machen. Joghurt löffeln. Nachrichten lesen. Den Mann verabschieden. Er eröffnet die Handschuhsaison auf dem Rad.
Ich arbeite zuhause. Ein Newsletter steht als Erstes an. Dafür baue ich das Bügelbrett auf. Ich brauche nämlich ein Foto einer Leinentasche, die gefaltet zu mir fand. Mit hübschen Knickfalten. In diesem Haushalt wird so selten gebügelt, dass ich nach dem Bügelbrett kurz suchen muss. Es hat seinen Stammplatz geändert. An den Grund dafür erinnere ich mich nicht mehr – es ist zu lange her. Doch nun steht es hier, auch das Bügeleisen fand sich. Dann könnte ich nachher auch mal die aufgelaufenen Taschentücher bügeln. Eine Art Ausgleichssport und Huldigung der geerbten Stofftaschentücher eines Vaters und eines Schwiegervaters, die sie nicht mehr benötigen.
Die Tasche ist faltenfrei. Zum Fotografieren fehlt leider Licht. Es ist ein überraschend herbstgrauer Tag. Die Wolken hängen tief. Die Wohnung ist dunkel. Mit allem raus vor die Tür, aber da ist es nass und nicht viel heller. Ich bastele mir eine irrwitzige Konstruktion aus Kleiderbügel, Lederjacke und Tasche mit Bilderbuch darin, um das Foto schließlich an der Tür zum Bad zu machen. Der einzige Ort, der einigermaßen genügend Licht hergibt. Ich könnte auch zum Buchladen fahren und dort ein Foto machen, aber der Newsletter muss zur Korrektur und die Abbildung wird ohnehin relativ klein sein. Die Filter müssen es richten.
Tja. Ich setze mich oft an den Schreibtisch mit dem Gedanken: Ach, das schreibe ich mal eben. Geht doch flott. Nun ist halb zwölf. Immerhin, der Newsletter steht, ein Veranstaltungskonzept steht und ist versendet, Mails sind geschrieben. Der Nachmittag gehört meinem Brotjob: Buchmarketingtexte schreiben und Korrekturlesen. Klare Aufgaben, klare Routinen. Gut für den Kopf und regelmäßiges Geld fürs Konto.
Aber der Kopf folgt dem Diktat des Magens. Der knurrt. Das Frühstück war aus bekannten Gründen schmal. In der Küche stehen reichlich Pilze. Daraus könnte ich einen Fond ansetzen. Suppenwetter. Reis von gestern ist noch übrig. Der restliche Kopfsalat muss weg.
Ich passiere auf dem Weg in die Küche das Bügelbrett. Das Bügeleisen steht, längst wieder erkaltet, gelangweilt herum. Jo, Leute. Später vielleicht.
In der Küche erwartet mich die Spülmaschine. Beim Ausräumen höre ich das ZeitZeichen im WDR 5: Thomas Mann sprach am 27. September 1942 im Radio der BBC über den systematischen Massenmord an den Jüdinnen und Juden.
Der Thymian geht zur Neige. Die Gleichzeitigkeit von dem, was ich höre, und dem, was ich in dem Moment tue, ist absurd.
Nach dem Essen telefoniere ich mit meiner Frau Mutter. Bei ihr im Haus, unserem Elternhaus, wird großräumig umgebaut und sie steckt das nur schlecht weg. Morgen werde ich sie besuchen.
Eine Freundin meldet eine rote Kachel in ihrer Corona-Warn-App. Wir waren vor einigen Tag zusammen in einem Speiselokal. Meine App schweigt, aber sicherheitshalber mache ich einen Selbsttest. Es ist ein anderer als sonst und ich lese die Gebrauchsanweisung. Die ist in Schriftgröße 2 (!) auf dem beigelegten Zettel. Eine Lesebrille brauche ich noch nicht, auch gut zu wissen. Leichte Abweichungen in der Anwendung gibt es: Drei statt vier Tropfen aufs Testdingsi. Warten.
Derweil lade ich mir meine „Patienten“ für heute Nachmittag runter. Texte über Advent und Weihnachten, allüberall auf den Tannenspitzen, Kräuter und Radfahren, sah ich goldene Lichtlein blitzen. Auf dem Testdingsi blitzt nichts, eindeutig negativ. Wie froh bin ich, dass es diese Tests gibt. Noch froher wäre ich, wenn man sich wirklich auf das Ergebnis verlassen könnte. Morgen also nochmal, bevor ich zu meiner Mutter fahre.
Seufz. Nachher Arzttermin. Ich sollte vorher noch rasch unter die Dusche springen.
Mehrere Texte später strecke ich meine Knochen und räkele mich ausgiebig. „Sitzen ist das neue Rauchen“, sagt mein Hirn. Hirn, wir haben nie geraucht. Was redest du? Aber gut, ich könnte in die Küche gehen. Kaffee wäre nicht schlecht. Und im Hirn können sich in der Zwischenzeit die Buchstaben setzen, die wie in einer Schneekugel gerade dort herumschneestöbern.
Ich passiere auf dem Weg in die Küche abermals das Bügelbrett. Das Bügeleisen steht nach wie vor gelangweilt herum. Ich drehe es um, damit ich sein Gesicht nicht sehen muss.
Bisschen twittern. Angenehmer kleiner Austausch bei Instagram zur Wesensart von Spülmaschinen, nachdem ich ein Foto der Mitarbeiterin des Monats (jeden Monat) gepostet habe.
Klimbim in den Mails.
Unruhe in mir wegen des Arzttermins nachher. Seit Wochen zwickt mich immer mal das rechte Bein. Ich habe den Verdacht, dass es eine Überlastung sein könnte. Sporadische Lahmheit in der rechten Hinterhand – wieher. Gestern habe ich eine Art YouTube-Schnellkurs in menschlicher Anatomie gemacht, um wenigstens die schmerzenden Stellen richtig benennen zu können. Dabei habe ich schöne Wörter gelernt: Schneidermuskel, Sehnenplatte und Darmbeinstachel. Ob der Arzt auch so davon beeindruckt sein wird wie ich? Vermutlich gibt’s einfach eine Überweisung zum Sportmediziner. Sei’s drum. Blöd ist, dass ich nun schon länger immer mal Schmerzen habe beim Radfahren, Reiten, Stehen, Gehen, Wandern … Hm. Im Wegdrücken von Schmerz bin ich ziemlich gut, aber allmählich sehe selbst ich ein, dass was passieren muss.
Eine Überweisung, wie vermutet. Aber beinahe zufällig scheine ich endlich einen Hausarzt gefunden zu haben: einen, der sich Zeit nimmt und mit Interesse zuhört. Einen, der sich mit Herzgefrickel auskennt. Ich kehre zuversichtlich nach Hause zurück.
Auf dem Weg nach Hause kaufe ich Brot und Butter. In der Warteschlange vor der Kasse habe ich eine Idee, wie ich meinen 50. Geburtstag verbringen möchte.
Auch der Mann hat Brot gekauft. Nun ja, somit sind wir einstweilen versorgt. Beim Abendbrot hören wir Radio. Es gibt Tee. Ein Herbststillleben, also.
Es ist schon dunkel. Früher mochte ich Herbst mehr. Das hat sich verändert. Mich dürstet nach Licht, Grün und Draußen, während ein weiterer düsterer Winter droht mit Pandemie, Krieg, Krisen. Und in Köln Dauergrau.
Mehr Tee. Amöbengleich für eine Weile noch vorm Fernseher einrollen. Maigret. Rowan Atkinson spielt die Rolle des Komissars im Paris der 1950er.
Film aus. Buch auf. Tag zu.
Kommentar verfassen