Als der Wecker klingelt, beginne ich zu memorieren. So hörte der gestrige Tag auf – so beginnt der heutige: „Was ist zu tun: Tische und Stühle stellen, Kaffeegedecke (hoffentlich reichen Teller und Tassen, Kuchengabeln und Löffel), Deko auf die Tische werfen, alles aufhübschen – ach: wird schon werden!“
Es ist einer der Tage, von denen man im Vorfeld sagt: Das ist ein wichtiger Tag, ein großer Tag für mich. Heute wird es sich entscheiden, ob alles so gut ist, wie ich es mache. Aber vielleicht irrt man auch. Die Erfahrung hat ja schon des Öfteren gezeigt, dass diese Tage möglicherweise wichtig sind, aber keinesfalls lebensentscheidend. Was heute so „lebensentscheidend“ sein wird, ist eine Geburtstagsfeier für die Senioren meiner Kirchengemeinde. Für alle. Also wer will. Für sie bin ich seit einem halben Jahr „zuständig“. Durch die sozialen Medien geschult, deckte sich meine Erfahrung mit denjenigen, die schon öfters bei solchen Veranstaltungen dabei waren: Es kommen 10% und ein paar mehr als eingeladen. 481 Briefe hatte ich abgeschickt und die Tage zuvor war jeden Tag der Anrufbeantworter voll: „Hallo, vielen Dank ich komme gerne“. Aber mehr: „Ich kann leider nicht kommen, ich bin gerade so erkältet/der Handwerker kommt/ich fahre weg“.
Es ist auch deswegen ein „großer“ Tag für mich, weil ich zwar Leben retten kann und Gipsen beherrsche, jedoch noch nie eine Geburtstagssause für viele Menschen organisiert habe. Und wie sich das für das erste Mal gehört: Es soll großartig werden. Im Gedächtnis haften bleiben. Bezaubern. Wie so viele andere „erste Male“. Ich laufe memorierend durch die Wohnung. Hebe nebenbei hier eine Socke der Kinder auf und binde dort den Hipster-Zopf des Ältesten zusammen. Endlich sind sie alle zur Tür hinausgeküsst.
Noch ein Kaffee. Noch ein Plan, wie wann was zu tun ist. Ich liebe Organisation im Vorfeld. Man könnte sagen, ich bin schon fast besessen von der Frage: Wie kann ich meine Zeit und Tätigkeit so zusammenbringen, dass ich mit dem kleinstmöglichsten Aufwand am effektivsten und schnellsten fertig bin. Diese Denkarbeit sieht keiner, wohl aber, wie ich – sollte mein Plan „aufgehen“ – Pause machen kann. Füße hoch, Kippchen an. Oder wie meine Omma schon immer sagt: „Vorbereitung ist das halbe Leben.“ Faul sein für Fortgeschrittene.
Hedwich ruft an. Zusammen mit ihr wollte ich Tische und Stühle stellen. Der Handwerker ist da. Es wird später. Wo immer alle die Handwerker herkommen, ist mir ein Rätsel.
Himmel! Hedwich wird 78 Jahre alt und ist auf Zack. Die Löckchen liegen adrett in weißen Wellen um den schmalen Kopf, der Gang ist zielstrebig und führt sie in alle Ecken der Stadt. Gerne auch auf den Friedhof, wo sie alle Lieben begießt und nach dem Rechten und Linken schaut. Sie führt ein strenges Regiment, weiß alles, ist immer da und die Spülmaschine auf der Arbeit darf keinesfalls ohne sie eigeschaltet werden. Nicht, dass was passiert, falsch eingeräumt wurde oder überhaupt.
Aufgrund des Alters und weil Hedwich „Rücken“ hat, wollte ich ungern mit ihr zusammen Tische und Stühle aufzustellen. Ich hatte keine Chance mit meinem Protest. Denn 1. kann sie es, 2. geht es ohne sie nicht und 3. „machen wir das zusammen. PUNKT!“ Zwei Stunden später will ich sie ins Auto einsteigen lassen. Aber sie „muss eben noch der Jugend den Weg weisen“ und verschwindet erst einmal mit einer Horde Jugendlicher um die nächste Hausecke, die sich in der Stadt nicht auskennen. Ohne Hedwich geht es eben nie.
Weil wir zwar wissen, wie viele sich angemeldet hatten und der Erfahrung halber noch locker zehn Personen „aufschlugen“, wollen wir den Raum für 60 Menschen „richten“. Die Tische sind zusammengeklappt in Schränken verstaut, die Stühle stehen logischerweise ein Fach darüber, sodass man sie einzeln herunterheben muss. „Aber vorsichtig, sonst knallen sie dir auf den Kopf!“ „Und die Tische bitte nur über die rechte Seite aufstellen, ich habe sonst Probleme mit dem Rücken!“ Zwölf Tische kramen wir raus, 60 Stühle ebenso. Jetzt habe ich Rücken.
Und dann die Ordnung: Diese Tischlogik hatte uns die letzten Tage beschäftigt. Die Tische sind rechteckig und an einen einzelnen passen sechs Menschen. An zwei zusammengestellte Tische acht. Zeichnungen hatten wir gemacht mit richtigen Kritzelmännchen, damit ich mit meinem Logikknoten im Hirn mitkomme. Wie viele Einer- oder Zweiertische müssen wir stellen, damit alle Platz habe? Tische hintereinander funktionieren nicht, da dann zu wenige Platz finden. „Schau, ich hab das schon öfters gemacht!“, höre ich von Hedwich. „Ich fände es schöner, wenn sie schräg stehen würden!“
Irgendwann ist es mir egal. Hauptsache, die Tische und Stühle stehen. Ich bin verschwitzt, als endlich alles steht. Hedwich nicht. Das Geschirr klimpert, als wir es in den Gemeindesaal fahren. Ich stelle Teller, Tassen und Untertassen, Hedwich läuft hinterher, legt Löffel auf und ordnet die Henkel der Tassen neu. „Es ist viel schöner, wenn man gleich in den Tassenhenkel greifen kann!“ Kuchengabeln kommen später. Dafür müssen noch Servietten gefaltet werden. Mach ich. Gar kein Problem.
Verschwitzt und in Arbeitsklamotten kann keiner Gäste empfangen. Ich fahre nach Hause, um mich aufzuhübschen. Frau Müller schreibe ich eine WhatsApp-Nachricht, dass die – meinem fortgeschrittenen Alter geschuldete – „Restauration“ des Körpers noch etwas dauert. Wir waren verabredet, weil Frau Müller einen Hang zur Dekoration hat – im Gegensatz zu mir. Außerdem ist ihre Hilfe „doch ganz selbstverständlich“.
Nachdem es morgens nur sechs Grad hat, ist es jetzt spätsommerlich heiß. Meine in Gedanken zusammengestellte Kleidung kann ich den Hasen geben: viel zu warm. Ein Sommergewand muss her. Dafür steh ich unter der Dusche und rasiere mir zusätzlich die Beine. Diese Extras immer. Außerplanmäßiges. Ich hatte mich schon auf „Winterfell“ eingestellt.
Im frischen Gewand geht es zurück. Frau Müller und Hedwich fummeln schon in der Küche herum. Hedwich muss allerdings gleich weg – sie hat noch einen Friseurtermin. „Seid 30 Jahren geh ich zu ‚meinem‘ Türken! Ich bin ihm mittlerweile durch die halbe Stadt gefolgt! Jetzt hat er seinen Laden“… und sie erzählt, in welchen Stadtteil er jetzt ist. Sie muss sich „sputen“.
Frau Müller und ich machen uns an den Tischschmuck. Mit Hedwich war ich am Tag zuvor im „Gebüsch“ und hatte „Gedöns“ geholt. Efeu und bunte Blätter, Tannenzapfen und Kastanien, Blätter des Essigbaums und Undefinierbares, was hübsch aussah. Während Frau Müller vorsichtig eins nach dem anderen aus der Kiste hebt, greife ich mit den Händen hinein und verteile es auf den Tischen. So macht dekorieren Spaß. Grobmotorisch, aber im Ergebnis recht hübsch anzusehen.
Nebenbei koche ich eine Kanne Kaffee nach der anderen. Hektoliterweise. Aber nicht zur stark – um Himmels willen. Gegen entkoffeinierten Kaffee habe ich protestiert. Entweder – oder. Martha kommt mit den Kuchen. Sie ist meine Freundin, backt für ihr Leben gerne und hatte sich angeboten, den Kuchen für die Sause zu übernehmen. Sieben Kuchen, Torten und „Zwiebelplooz“ werden aufgeschnitten und arrangiert. Bei der Käsesahnetorte läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Ich werde allerdings kein einziges Stück von diesen Köstlichkeiten essen: als ich möchte, ist die „Platte geputzt“ – wie es meine Omma immer nannte. Der Federweißer duftet durch den Raum, der Kaffee röchelt durch die Maschine – alles ist fertig, alles sieht sehr schön aus, alle Steine plumpsen von meinem besorgten Herz herunter. Geschafft. Wer hätte das gedacht. Unbändige Freude macht sich stattdessen breit.
Und schon kommen die ersten Gäste. Schnaufend, Rollatoren schiebend, beschwingt oder Arm in Arm kommen sie mir entgegen. Die wenigsten kennen mich – ich bin erst seit einem halben Jahr in dieser Anstellung. Die, die mich kennen, drücken mich. Ich drücke zurück: Alte, knochige Körper, feste, runde Männerbäuche, weiche Busen, kühle Haut auf meiner Wange. Die letzten, klitzekleinen Sorgen verpuffen spätestens jetzt. Dieses: „Schaff ich das? Kann ich das?“ Aber hallo! Ich kann. Auch, weil ich so viel wohlwollende Hilfe hatte und habe. Ein Schlückchen Federweißer im Flur und dann ab in den Saal. Wie der Traumschiffkapitän halte ich eine kurze Rede. Feste Stimme, breites Grinsen im Gesicht, Späßchen für die Ohren. Feierliches Anzünden den Geburtstagskerze. Und dann: „Das Buffet ist eröffnet“.
Eine frühere, geliebte Arbeitskollegin mit Liebe für Senioren im Herzen, hilft – gemeinsam mit ihrer Freundin – bei der Bewirtung. Die Senioren und Seniorinnen sollen es schön haben. Und sie hauen ordentlich rein. Diabetes? „Nicht an diesem Tag!“ Flüssigkeitsbilanzierung? „Och – ein Federweißer geht noch!“ Dabei hatten sie zu anfangs noch alle gesagt: „Federweißer? Um Himmel Willen. Auf keinen Fall! Da komm ich vom Klo nicht mehr runter! Da bin ich ja gleich blau!“ Alles, alles wird zwei Stunden später leergefuttert und ausgetrunken sein.
Es ist eine heitere Stimmung. Auf den Tischen verteilte ich schon frankierte Postkarten. Sie sollen – wenn sie mögen – ihre Adresse aufschreiben. Später, so der Plan, würden sie eine andere Karte mit nach Hause nehmen und ein paar freundliche Worte an diese Adresse schicken. Ein Nachmittag mit Retard-Wirkung sozusagen. Das kennen sie alle von ihren vielen Tabletten. Der Solist, der an diesem Nachmittag für ein kleines Programm bestellt ist, findet die Idee grandios. „So eine tolle Sache. Schon ist meine schlechte Laune weg, die ich heute Morgen hatte!“ Vielleicht ist sie auch weg, weil er von der Welle des Wohlwollens, die durch diesen Raum schwappt, mitgetragen wird.
Zwei Stunden später ist Feierabend. Die Senioren sind offensichtlich darauf getaktet und brechen auf. Was wiederum ein Segen für mich ist, denn bei der Planung des Nachmittags hatte ich vieles bedacht, nicht aber, dass eine Stunde später in diesem Raum eine wichtige Sitzung stattfinden würde. Händeschütteln und „Drückerchen“, Spenden und Postkartenverteilung, während im Hintergrund Hedwich, Frau Müller und die liebste Ex-Kollegin und Freundin „Klarschiff“ machen. Stühle und Tische aufräumen und neu arrangieren, umdekorieren. „Viele Hände machen schnell ein Ende!“, wusste schon meine Omma.
Beseelt fahre ich später nach Hause. Und dort: der nächste Glücksfall: Meine Familie hat mir ein Bad eingelassen – ohne, dass ich sie darum bitten musste. Der Tag war mein. Und ich seiner. Den Badezusatz „Entspannung“ braucht es nicht. Und während ich im warmen Wasser liege, plane ich heimlich neu. Denn was das Wichtigste ist: Die Menschen zusammen an einen Tisch (oder viele kleinere, der Tischlogik wegen) setzen. Gemeinschaft halten. Ins Gespräch kommen. Gegen die Einsamkeit und für den Frohsinn im Leben, den nicht alle der Senioren haben. Vielleicht ein gemeinsames Frühlingsfest?
Wie sangen wir zum Abschied? „Wir ruhen all in Gottes Hand. Lebt wohl, Auf Wiedersehn!“ Hoffentlich!
Ein tolles Projekt! Nichts ist schimmer, als die Einsamkeit. Bei solch einem Kaffee-Trinken blühen die Senioren auf. Hier im Heim liebe sie es auch, zusammen zu sitzen, Kaffee zu trinken und zu quatschen.
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