27. September 2022 – von Viktor Funk

Und dann sagt das Kind „chill mal“. Um viertel vor elf Uhr abends unter der Woche. Das Kind ist zu jung, um viertel vor elf Uhr abends unter der Woche wach zu sein, aber nicht mehr zu jung, um der dritten Aufforderung, sich an die Abmachung zu halten und jetzt nach dem Film rasch ins Bett zu gehen, einfach zu folgen. Es ist eher alt genug, um jeden möglichen Anlass für einen Machtkampf zu nutzen. Aber nicht heute, heute will ich noch diesen Text schreiben und eigentlich noch die Küche aufräumen, und der Staub in der Wohnung … und die Wetter-App checken für die richtige Kleidung für das Kind morgen, die noch rausgelegt werden muss … Es ist definitiv kein guter Moment, um „chill mal“ einfach so hinzunehmen. Also folgt eine Moralpredigt statt einer Gute-Nacht-Geschichte. Und jetzt sitze ich endlich an diesem Text.

Heute ist es mir gelungen, nicht gleich morgens die Telegram-Kanäle zu öffnen, auf denen der Krieg in der Ukraine in all seiner Schrecklichkeit dokumentiert wird. Ich verfolge sie seit dem 24. Februar dieses Jahres sehr intensiv, zu intensiv manchmal. Da ist einmal der Job, für den das wichtig ist; wenn ich als Journalist über Russland und die Ukraine berichten will, reichen die traditionellen Medien nicht aus. Die russischen schon gar nicht mehr, die meisten sind inzwischen manipulativer als die sowjetischen Medien es Ende der 80er Jahre waren, als ich selbst noch als Kind in der Sowjetunion gelebt habe. Umso bedeutender sind Nachrichtenflüsse auf Messenger-Diensten und auf sozialen Medien, nur umgehen mit ihnen muss man erst einmal lernen. Und zum anderen begleitet mich noch immer die naive Hoffnung, dass ich irgendwas finde, irgendwelche Analysen, Berichte oder Nachrichten, die ein Ende dieses Krieges ankündigen.

Manchmal lese ich, aber viel öfter sehe ich in Videos, schon sehr früh morgens, was in der Ukraine los ist, was pro-ukrainische Kanäle posten und was die pro-russischen. Und dann denke ich an die Menschen, die ich bei der Ukraine-Reisen traf und an die, die ich in Russland kenne und die jetzt eingezogen werden könnten in diesen sinnlosen Krieg.

Einige Straßen weiter lebt eine geflüchtete Familie aus der Ukraine. Die Frau, deren Sohn in der Heimat bleiben musste, hat sich hier in Deutschland ganz den Pflanzen am Haus hingegeben, sie hat viele Blumentöpfe aufgestellt. Wir kamen einmal ins Gespräch, wenn wir uns auf der Straße begegnen, reden wir kurz. Heute traf ich Valerija, als ich morgens vom Bäcker kam und sie frage mich, ob der feuchtkühle Herbst normal sei für Deutschland. Kühl sei es bei ihnen, sagte sie heute. Heizt ihr schon, fragte ich? Nein, sagte sie. Habt ihr Gas? Sie weiß es nicht, antwortete sie. Einmal war ich in ihrer Wohnung, um eine Batterie in einem Feuermelder zu wechseln. Die Wohnung war sehr karg eingerichtet, einige wenige Möbel, die da waren, kamen aus Spenden. Eine Wohnung zum Wohnen, dachte ich, kein Zuhause zum Leben.

Und als ich dann heute zu Hause war und endlich in den Nachrichtenstrom eintauchte, sah ich dauernd Friedrich Merz in meiner Twittertimeline und machte den Fehler nachzuschauen, warum er da so oft auftauchte. Vom Sozialtourismus hatte er gesprochen, vom Ausnutzen sozialer Leistungen in Deutschland durch ukrainische Flüchtlinge. Valerija hat seit März ihren Sohn nicht mehr gesehen. Er ist nicht an der Front, aber lange Zeit befand sich die Stadt, in der er lebt, in Frontnähe, ein ziviles Nachbarhaus sei einmal von der russischen Armee beschossen worden, hatte sie mir mal erzählt. Daran muss ich denken, als ich Merz’s Aussagen höre, seinen überheblichen Gesichtsausdruck dazu sehe und später seine Nicht-Entschuldigung lese. Natürlich regt mich das auf, ich twittere dazu.

Nach Mitternacht ist es jetzt, also schon der 28. September. Bald geht’s ins Büro, vorher Kind wecken, wir haben abgemacht, dass ich nur einmal „aufwachen“ sage, Frühstück machen, an Zahnspange und Bettmachen erinnern, sich selbst fertig machen und vorher nicht in die Telegram-Kanäle und auf Twitter schauen. Vielleicht kriege ich das wieder hin. Dann kann ich wenigstens gechillt in den Tag starten.

Eine Antwort auf „27. September 2022 – von Viktor Funk

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  1. Sich sorgen, für jemanden sorgen, das Kind umsorgen. Nicht einfach in „normalen“ Zeiten, schon gar nicht momentan, schon gar nicht in Krisengebieten. Was Eltern leisten wird nirgends gewürdigt. Hoffentlich von den Kindern irgendwann.

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