27. September 2020 – von Sus Hösel

Der Tag beginnt um kurz vor sieben mit der Katze, die mir ins Gesicht schnüffelt und auf dem Bett herumspringt. Sie will fressen. Auf dem Weg in die Küche breitet sie einen dichten, dunklen Klangteppich von Schnurren vor mir aus, durchsetzt mit hellem Gemaunze. Danach haue ich mich nochmal ins Bett und werde nach zehn vom kleineren Kind geweckt, was sonst nie, nie, nie passiert. Es säuselt, „aufwachen, heute ist Flohmarkt, was möchtest Du frühstücken, mein liebes Kind?“ und grinst sehr zufrieden über seinen Witz. Frühstück mache ich dann, es gibt Tee und Kuchen. Zu meiner großen Überraschung kommt sogar das größere Kind sofort an und setzt sich aufs Sofa. Es ist wortkarg, maximal unbeeindruckt und hungrig. Zum Tagesbeginn gibt es auch eine Mail von Nik. Er hat Sorgen mit seinen Wacholderreißern, die nicht anwachsen wollen. Jetzt keimt im gleichen Topf Dill. Es ist heikel. Eine DM auf Twitter, eine SMS von *. Post am morgen ist besser als Frühstück.

Für heute ist ein Hausflohmarkt angekündigt, um zehn Uhr an einem Sonntag. Ich schaffe es, schon um halb zwölf rauszukommen (in der schönen neuen schwarzen Hose, dem Kolibripulli und einer Wollstrickjacke). Ich bin gespannt, welche Art Dinge es diesmal geben wird. So BRD-80er-Jahre-Krempel oder Ikeazeug oder vielleicht richtig alte Dinge, deretwegen meine Eltern früher so gerne auf Flohmärkte und Haushaltsauflösungen gingen. Ich will eine Lampe fürs neue Arbeitszimmer zu besorgen. Ein paar hundert Meter durch das menschenleere Städtchen, unter einem zarten rosa Himmel. Vor dem in der Anzeige genannten Haus ist dann aber – nichts. Ich komme mir doof vor. Laufe eine Runde, um dann noch mal zu gucken – immer noch nichts. Aber ein paar Leute kommen ins Bild: Ein Rollstuhlfahrer, der seinen rechten Arm auf einem Kissen ohne Bezug bettet. Eine alte Frau in beiger Wattejacke. Der junge Eismann mit der minzgrünen Maske winkt mir über die Straße zu. An der Kirche eine Hochzeitsgesellschaft mit Mundschutzen, alle in knisternder Erwartung, und das in dieser herbstfrischen Luft.

Bergauf und auf dem Heimweg dreht es mich wieder sehr. Ich könnte auf dem Weg im Laufen einschlafen. Zu Hause nehme ich eine Tablette, obwohl der Arzt meinte, der Körper könne sowieso nicht so viel davon aufnehmen, eine Dosis aller zwei Tage reiche aus. Ich staubsauge noch, was vom Vortag liegengeblieben ist, klopfe den Teppich aus, eine furchtbare Sauerei, wische alle möglichen Flächen ab. In den letzten Tagen habe ich einen guten Teil Hausputz gemacht, immer mit rotem Wischeimerchen und Lappen unterwegs. Dabei drehte es mich noch mehr als heute. Ich freue mich jetzt schon sehr, diesen Eimer und die Lappen, die feuchten, grauüberzogenen, mit Kankern behafteten Lappen endlich loszuwerden. Beim Putzen ist dieser Ort so groß wie Versailles.

Dann eine Zwischenrunde Englisch mit dem kleineren Kind, das das Lernen lernen muss. Holiday vocabulary, irregular verbs, sentence connectors. Bis vor einem Jahr musste das Kind nicht lernen, es ging ganz hervorragend ohne. Dann ein Jahr, in dem es auscheckte, mit wie wenig Aufwand man durch die weiterführende Schule kommt. Das war erstmal ok, hat sich aber langfristig nicht so gut angefühlt. Also helfe ich jetzt beim Lernen. Ich versuche einzugrenzen, was überhaupt wiederholt werden muss, es geht ziemlich durcheinander. Dann haben wir irgendwann einen Plan, eine Struktur, nach der geübt werden kann, und ach, das ist schon sehr angenehm.

Bald darauf kommen * und sein Vater mit einem Riesentransporter. In der Autovermietung haben sie * wieder ein größeres Auto gegeben als bestellt. Das Ding passt kaum hier hin, und damit in Dresden, wo sie herkommen, einen Parkplatz zu finden, war auch ein Glücksspiel. Umarmung mit *, lang. Es gibt Kaffee und Kuchen für alle. Danach packen * und sein Vater aus: Zwei Sofateile, den legendären und echt prachtvollen Schreibtisch, zwei Stühle; alles Dinge, die sonst weggeworfen worden wären. Dazu verschiedener Kleinkram. Den schönen rostbraunen DDR-Hocker, der jetzt verwaist ist. Wir überlegen hin und her, wohin mit all dem Zeug, und dieser Ort fühlt sich wie eine winzige Ein-Raum-Bauernkate an. Ich nehme den Schreibtisch in mein Arbeitszimmer (wohin mit dem alten?). Als ich sehe, dass er staubig ist, ziehe ich ab, um frisches Putzwasser in den roten Eimer zu füllen, innerlich gründlich abkotzend.

*, sein Vater und ich überlegen, ob wir ein Sofateil in mein Arbeitszimmer stellen.

Ich sage, ich sehe da zwei Möglichkeiten: entweder wir stellen es hin und werfen das alte Futon der Vermieter raus. Oder wir nehmen es nicht und lassen das alte Futon stehen.

*s Vater sagt, ich sehe da drei Möglichkeiten.

* sagt, die Sus hat doch recht, das sind die zwei Möglichkeiten, die wir haben.

Drei Möglichkeiten, murmelt *s Vater konzentriert.

Ja, welche denn!, ruft *.

Wir stellen das neue Sofateil hier hin und räumen das da um und dann passt auch das alte Futon daneben.

Na gut, das würde ich als Variation von Möglichkeit 1 ansehen, was unsere nächsten Handgriffe betrifft, sagt *.

Wennde von vorne durchzählst, sind das drei Möglichkeiten, hält sein Vater dagegen und verschränkt seine Arme.

Ich sage, ich will das neue Sofa, und das Futon kommt raus. Ich gehe die staubige Schubladen abwischen. Dazwischen irregular verbs, to draw sitzt nicht, to sell sitzt nicht, river, complete, almost, after all sitzen nicht. Als das Sofa steht, merken wir, dass es zu klein ist, um darauf zu schlafen. Also wird das alte Futon wieder herausgeholt und kommt neben das Sofa, damit *s Vater heute ein Bett hat.

Als alles erledigt, abgewischt und verräumt ist, sitzen wir Erwachsenen in der Küche. Die Katze hat die Glasur vom Kuchen runtergefressen, weil wir in der Eile nicht aufgeräumt haben. Jetzt interessiert sie, was da noch für Krümel auf dem Tisch liegen. Dann geht alles schnell, und es geht schief. Das Tier springt fauchend vom Tisch und wischt die Teetasse des jüngeren Kindes mit herunter. Die Tasse, eine besondere, zerspringt in tausend Teile, die Katze flieht unters Sofa. Geschimpfe. Früher hätten * und ich in solchen Situationen die Nerven verloren, jetzt kehren wir.

Wir brauchen was zu Essen, und *s Vater lädt uns in die Schenke ein. Dem kleineren Kind fällt ein, dass es noch Spanisch-Hausaufgaben hat, also machen wir noch ganz schnell Spanisch und kommen hinterher. In der Schenke ist es gemütlich und komfortabel, wie immer. Wir spielen Just one und essen. Die Kinder ziehen danach alleine wieder ab, ich trinke noch mein Bier aus. Das erste seit Wochen, ich merke es sehr. Rückweg durchs Dunkel, das von vereinzelten LED-Laternen aufgehellt wird. Im Vereinshaus feiert die Hochzeitsgesellschaft von heute mittag weiter. Das Rauschen des Baches übertönt ihr Lachen. Auf dem Parkplatz davor steht ein Mädchen im Tüllkleid, sie sieht aus wie eine dicke, fröhliche Polyesterelfe. Eine Katze läuft zum Wasser herunter.

Zu Hause noch schnell to draw, to sell, river, almost, after all wiederholt. Ich selbst habe mich vor einer Woche für einen Spanischkurs bei Duolingo eingeschrieben. Mit schlotternden Knien, denn ich weiß so gut wie gar nichts aus der spanischsprachigen Welt und fühle mich schrecklich fremd dort. Russisch- und Polnischlernen dagegen war immer vertraut. Das Lernen macht mir trotzdem ziemlichen Spaß. Eingeloggt bin ich, aber weiter komme ich an diesem Tag nicht.

Als * die Kinder ins Bett gebracht hat, sitzen wir Erwachsenen in der Küche und reden noch eine Weile. Wir landen schnell bei Corona und der Wende. *s Vater legt Wert darauf, die Wende nicht als überwältigend empfunden zu haben, ebensowenig wie den Virus. Wir tragen wahllos zusammen, was sich damals verändert hat: die Art, wie man Versicherungen abgeschlossen hat, einkaufen gegangen ist, Möbel gekauft hat. „Wir hatten ein Schlafzimmer bestellt, so Schränke mit braunen gelackten Türen, ein Bett und Nachttische. Aber wir hatten keinen Platz dafür, unser Zimmer war ja nur 16 oder 20 qm groß. Also mussten wir es ein paar Monate unterstellen, bis wir endlich eine Wohnung von der KWV kriegten. Nebenan gab es so eine leerstehende Bruchbude, da konnten wir es in den Hausflur stellen. Dann kam irgendwann eine zweite Postkarte: wir könnten jetzt unser Schlafzimmer kaufen. Da ist irgendwas schiefgegangen. Kann ja passieren. Und ich hatte eine Kollegin, die brauchte unbedingt ein Schlafzimmer. Die wollte gar nicht erst wissen, was für ein Modell das war. Die hat sofort zugesagt. Die wollte einhundert, zweihundert Mark dafür geben, fünfzig hab ich genommen“. Verändert hat sich, wie man mit Geld umgegangen ist, Invesititionen ins Auge gefasst hat. Das Tempo, mit dem sich die Stadt verändert hat, wo sich vorher wirklich gar nichts tat. Es ist schon spät, als ich finde, dass Wende und Corona after all gar nicht zu vergleichen sind, und wir lassen es sein, halb bewegt, halb erledigt. Ins Bett, der neue Tag scharrt schon mit den Hufen.

3 Antworten auf „27. September 2020 – von Sus Hösel

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  1. Jetzt komm ich endlich mal dazu, die Fragen zum Text zu stellen: was ist heikel am Dill? und wie sieht ein Kolibripulli aus? (letzteres klingt super)

    Schöner Text! den Dialog über die 2 oder 3 Möglichkeiten fand ich grandios.

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    1. Am Dill ist nix heikel, aber der Wacholder, der ist heikel. Er ist nicht leicht rauszufinden, wie der nun am besten anwächst. Und ob der Dill nicht ein Konkurrent für den Wacholder ist im Blumentopf, oder ein Helfer, das ist auch eine heikle Frage.
      Und der Kolibripulli, guckst Du hier:

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      1. Ah, sehr schick, danke! 🙂 hätte spontan eher an Kraniche gedacht, aber auf dem Bild sieht man sie ja nur halb. Trage übrigens gerade Socken mit Schwalbenmuster.

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