27. September 2020 – von Cornelia

Ich hätte ja nicht gefeiert. Nicht während einer Pandemie. Und eigentlich überhaupt nicht. Aber zum einen hatte das Kind für sich selbst entschieden und zum anderen hielt die Pfarre nichts davon, die Erstkommunion ein zweites Mal zu verschieben. Ich hätte ja nicht gefeiert, denke ich also, während wir abends am Balkon stehen, nachdem wir die kleine Gästeschar verabschiedet haben und mit einem Glas Bier in der Hand zusehen, wie sich lange Schattengestalten über die Hauswand gegenüber schieben. Der Singsang vom Kind, das drinnen im Lavendelbad liegt, klingt bis nach draußen. Einer dieser Momente, die von warmer Erinnerung und Zufriedenheit erfüllt sind. Die Aufregung am Morgen ist noch greifbar.

Haare wollen geflochten und ein Fleck unerklärlicher Herkunft aus dem Kleid gewaschen werden. Ein Teil der Gäste ist zu früh dran und die passende Strumpfhose natürlich nicht zu finden. Nach einem halben Jahr Home Office fühle ich mich mit Make-up und Schmuck, in Bluse und Rock verkleidet. Draußen Herbst. In den engen schattigen Straßenschluchten kriecht die Kälte an uns hoch, auf den Sonnenplätzen schlüpfe ich aus dem eigentlich ohnehin zu warmen Mantel. Weil die Gäste vom Land kommen, sehe ich die Großstadt mit ihren Augen. Jede abblätternde Wand fällt mir mit einem Mal negativ auf und muss von einer herrschaftlichen Fassade wiedergutgemacht werden. Nach dem grantigen Alten mit kläffendem Hund an der Leine, nach der tschickend-hustenden Mitfünzigerin an der Ecke halte ich dringlich Ausschau nach beschwingten Menschen mit Sonntagslächeln. Auf der Rückseite des frühhistorisch blockhaften Kirchenbaus hat sich jemand durch die Altkleidercontainer gewühlt und aussortierte Stücke achtlos auf den Boden geschmissen. Schließlich bekannte Gesichter. Sie vertreiben die Anspannung, die ich erst wahrnehme, als sie sich schon verflüchtigt. Mundnasenschutz, Händedesinfektion, vorreservierte Sitzplätze, sperrangelweit offene Tore und Pforten. All das ist mir vertrauter als die unveränderten Formeln und ihre Abfolge in der Messordnung, über die ich längst stolpere. Ansonsten: In die Maske hineinzusingen ist halb so wild. Der Pfarrer rügt in der Predigt die Weigerung der Regierung Menschen aus Moria aufzunehmen. Und, wenn achtjährige Kinder mit Schleifen im Haar brennende Kerzen halten, ist die Nervosität der Erwachsenen um sie herum ähnlich fühlbar wie beim Laternenfest im Kindergarten. Zum Abschluss bitten die Fotografen zum Gruppenbild. Die Kinder blinzeln von der Sonne geblendet und lassen sich auf den Stufen hin und her schieben. An Kleidern und Haaren wird neuerlich gezupft. Hinter den beiden offiziellen Fotografen jagt der Pulk von Großvätern mit hochgereckten Smartphones dem besten Schnappschuss nach. Wir nehmen einen anderen Weg zurück, vorbei am Schulneubau. Dort im zweiten Stock, nein, nicht die Fenster mit den bunten Drachen, daneben. Und oben, seht die Sonnensegel der Dachterrasse. Zuhause gibt es Geschenke für das Kind. Und Mittagessen. Man sitzt verteilt auf allen dafür geeigneten und weniger geeigneten Tischen und Tischlein, Stühlen und Hockern. Pizzakartons und Salatschüsseln werden herumgereicht. Ein Familienfest als Provisorium. Ich schicke Fotos an die, die fehlen, weil sie in Quarantäne ein paar Bezirke weiter ausharren müssen, und mache Musik. Leonard Cohens Hallelujah sorgt für Erheiterung. Anekdoten über Hochzeiten und Beerdigungen, an denen es ebenso unpassend gesungen oder gespielt wurde. Zum ersten Mal kommt mir in den Sinn, dass es auch von anderen als eine Art subversive Intervention gegen das Traditionenkorsett ausgewählt wird. Der Soundtrack an diesem Tag ist jedenfalls sorgsam kuratiert. Wir stauben die Großmütter aus der Küche und drängen zum Spaziergang, bevor die ersten Biere geöffnet werden. Der Herbst hat den Park in einen Bildband verwandelt. Orange und rot und lila blühen die wuchernden Blumen im barocken Teil. Wir wandeln durch die Alleen aus Kastanienbäumen, Linden und Eschen. Auf den Wiesen wird gepicknickt, auf den Kiesplätzchen Boccia gespielt. Jemand lässt einen Drachen steigen. Ein goldener Luftballon in Form einer Drei hat sich aus der Zweckgemeinschaft mit der metallisch schimmernden Null gelöst und in einer nahen Baumkrone das Weite gesucht. Alles überragend die beiden Flaktürme. Der Never-Again-Schriftzug auf dem einen lenkt das Gespräch kurz ab. Abseits eine umgefallene Esche. Der mächtige Baum mit abgefaulten Wurzeln liegt quer über eine Wiese, ein rot-weißes Absperrband hält Zaungäste fern. Das Kind hat genug Kastanien gesammelt und treibt uns an. Zeit für die Torte. Bis die Kannen mit frisch gebrühtem Kaffee vollgelaufen sind, dauert es. Weil eine Frage zur Taufe aufgetaucht ist, hole ich den Karton mit Erinnerungen hervor. Der Stammbaum, den ich vor Jahren gezeichnet habe, fällt mir in die Hände. Ich breite ihn zwischen uns aus. Erstaunt liest das Kind die Geburts- und Sterbedaten. Ich ergänze um einen Todestag und zwei neue Familienmitglieder. Dazwischen einige Fragezeichen. Dort ein uneheliches Kind mit unbekanntem Vater, da ein vergessener Mädchenname. Linien, die ins Leere verlaufen. Welche Bedeutung hat ein vollständiger Stammbaum? Hat ein Stammbaum überhaupt eine Bedeutung? Ich sehe Finger, die sanft über Namen streichen und Geknicktheit ob der fehlenden Vornamen der eigenen Großeltern. Jetzt aber, die Torte. Wieder Fotos. Sie ist wirklich schön. Schokolade, goldener Glitzerstaub, Zuckerblumen und Beeren. Viel zu teuer. Once in a lifetime oder so. Die Plätze werden getauscht. Wer trinkt Kaffee? Wer Cola? Alkoholfreies Bier? Ja, klar. Alles da. Das Kind holt Holzbausteine und ruft einen Turmbauwettbewerb aus. Irgendjemand sitzt immer am Klavier, man lässt den Fingern ihren automatisierten Lauf oder seufzt wehmütig, keine Chance gehabt zu haben, dieses Instrument zu lernen. Schick schaut es aus, ist man sich einig, wie es da so im Raum steht. Das Kind und ich haben ein Regenlied geübt. Wir bringen uns durch das Mitsingen aus dem Takt. Anstatt wie sonst wütend mir die Schuld zu geben, lacht es. Irgendwann brechen alle gleichzeitig auf. Dann ist es still. Durchatmen. Ja, ich hätte nicht gefeiert. Aber das kleine Fest in dieser Zeit, in der Nähe und Gemeinschaft so rar sind, in der das Glück der Unbeschwertheit so selten ist, der Sonnentag inmitten einer Herbstregenwoche, versöhnt mich mit den von Hadern und Bitterkeit durchwachsenen vergangenen Wochen. Das kommt überraschend.

Wir haben die Chilichips zu servieren vergessen, klagt das nun gewaschene Kind, das im Pyjama in eine Lavendelwolke gehüllt auf den Balkon zu uns stößt. Wir vermeiden den Blick auf die Uhr, nicken uns zu. Also noch ein geteiltes Bier und, endlich, die scharfen Chips. Mittlerweile dämmert es. Noch ein paar Momente nicht an morgen, nicht an das frühe Aufstehen, nicht an die Schule, nicht an die Arbeit denken. Erst als unsere Münder vom künstlichen Chilipulver brennen und sich die Nachtkälte zur Dunkelheit gesellt, lässt sich die Abendroutine nicht mehr länger hinauszögern. So spät schon?

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