Die Sirene weckt mich. Sie heult selten, alle drei Monate vielleicht. Ich lausche im Liegen, während der Regen aufs Dachfenster trommelt.
Am Morgen zerrt der Wind an der Linde vorm Fenster. Ich trinke dreifachen Espresso und lese dazu „Uncommon People“ von David Hepworth. News travelled faster, schreibt Hepworth, als man nur zwei Fernseh- und drei Radiokanäle hatte. So war es 1963 in England. Wurde dort ungewöhnliche Musik ausgestrahlt, haben alle sie gesehen oder gehört. Die obersten Äste der Linde ragen bereits kahl aus der Krone.
Die Mitglieder von The Who tourten zwei Jahre ohne Unterbrechung und nahmen Amphetamine, die früher Truppen konsumiert hatten, um schon am frühen Morgen into combat zu gehen.
Mein combat bleibt heute aus. Urlaub. Wir helfen Kartoffelschälen, pressen sie durch ein Gitter in eine Schüssel, spülen, formen Knödel, decken den Tisch und essen dann zu viel. Das Draußen hinter uns ist vom Regen grau schraffiert. Im Küchenlicht üben wir mit der Nichte die Aussprache von Wörtern mit R. RiesenRad, Regentonne, Rüssel.
Wir verdauen eine halbe Stunde im Bett liegend und scrollen durch einen Twitteraccount mit ekligen Gerichten. Smartiespizza und blaues Omelette zum Beispiel. Angewidert fahren wir durch das endlose Nass zu einem Haus, um dort den Boden zu verlegen. Der Tag leuchtet grau herein. Weil die Stromkabel zwar verlegt, aber noch nicht angeschlossen sind, fehlt uns das Licht. Wir rollen Folie aus, klappen sie auseinander und schneiden sie zurecht. Mehrere Bahnen. Der Boden sollte einen Zentimeter von der Wand, von der rechten Zimmerecke beginnend, verlegt werden, steht in der Anleitung.
Erst kratze ich draußen mit einem Schlitzschraubenzieher Erde von meinen Schuhsohlen. Der Gummirand meiner Lederchucks bröckelt stellenweise mit ab.
Es wird dunkler und Bruce Springsteen singt aus dem Baustellenradio.
Vom Schlafzimmer aus, in dem wir die Dielen zurechtschneiden, sind Meisen zu sehen: Sie hüpfen zwischen Scheune, wildem Apfelbaum und Weinstock hin und her und zupfen vom blauen Wein.
Laut Regenradar (RegenRadaR) folgt eine kurze Regenpause, wir nutzen die halbe Stunde für einen Waldspaziergang. Der Weg ist übersät von unbekannten Pilzen. Obwohl ich erst ein Handbuch gelesen habe, sind ihre Namen schon wieder vergessen. Einzig den Fichtenreizker (ReizkeR) kenne ich. Er sprenkelt den nassen Boden mit seinem Orange, das sich zur eingedellten Hutmitte hin faulig-grün verfärbt. Ich glaube, er ist essbar. Vermutlich ist sein Speisewert aber unbedeutend, wie es im Handbuch so schön heißt.
Im Bett liegend, es ist längst wieder tiefschwarze Nacht, bereite ich Eva Illouz für das nächste Lesekreis-Treffen vor. Sie zitiert einmal Bourdieu, der sagt, Menschen würden sich den Möglichkeiten anpassen, die sie objektiv haben. Außerdem taucht in meinen Notizen der Begriff „Agape“ auf, was als eine Art interesseloses, soziales Verhalten beschrieben wird, das nicht nach Anerkennung strebt. Agape, das liegt mir fern, denk ich mir. Ich dreh‘ und wälze mich einmal in meinem Egoismus, von dem ich nie weiß, ob er noch gesund ist, stehe auf und geh‘ ins Wohnzimmer, wo wir vor dem Schlafengehen noch Metropolis zu Ende schauen.
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