Ich klettere den Berg hoch, es sind griffige Felsen und kleine Pflänzchen, Vergissmeinnicht. Ich dürfte gar nicht hier sein und als würde mir das extra Kraft geben, bin ich viel schneller oben als gedacht. Ich bin auch viel näher dran als gedacht. Das Fest ist auf der Hochebene. Dort sind die Menschen aus Neuseeland, schöne, im Wind spielende Leinenkleider, Sektgläser, Blumenkränzchen. Es sind alle da von der Verlobungsfeier, bei der ich auch war, offiziell, an Ks Hand. Ich will ihn ja nur mal wieder sehen, nur mal gucken, vielleicht ändert das etwas in mir. Es wird mich niemand erkennen, außer der Familie, aber die sehe ich noch nicht, ah doch, da hinten ist seine Mutter, lachend, wie immer. K ist auch dort hinten, gut sieht er aus, in dem hellgrauen Anzug, edel, sportlich. An seiner Seite ist sein Bruder, der Bräutigam, und da sehe ich auch die Braut von hinten mit ihren langen braunen Haaren. Neben ihr steht noch eine Frau mit denselben langen Haaren, vielleicht ist das Ks neue Freundin. Die Frauen sind vertraut miteinander, sehen aus wie Schwestern. Eine Nähe, die ich nie hinbekommen habe. Ich gehe schnell weg, hinter die Felsvorsprünge, lege mich flach auf den Boden und atme in die Steine.
Wenn K später merkt, dass ich da war, wenn er mich auf den Fotos sieht, ach, ich hätte nicht kommen dürfen. Ms Schnarcher reißt mich raus, aber der nächste Traum rollt schon heran. Ein fetter, fleischiger Mann, der sich mit seiner ganzen Masse auf mich setzt und der mich, als ich auf der dunklen Dorfstraße um Hilfe schreie, fragt, ob ich denn nicht wüsste, warum?
Beim Herumwälzen remple ich M an, der direkt neben mir liegt, und sich zur Seite dreht. Im nächsten Traum ist Julia, mit der ich nachts vor dem Haus meiner Eltern stehe. Sie sagt, wir könnten gerne Probleme tauschen, meins sei ja gar keins, meins sei schlicht und einfach vorbei. Und zwar seit drei Jahren. Ich rechne kurz nach, stimmt, ich habe K seit drei Jahren nicht gesehen. Sie nimmt meine Hand und wir stehen unterm Balkon und haben Lösungen für die jeweils andere, die wir nicht annehmen.
Dann noch drei Träume, die sich immer weiter dem Wachbewusstsein nähern, unterbrochen von Ms Schnarchern und meinen Remplern, einer von einer kleinen hellgrauen sardischen Taube, erkennbar an dem schwarzen Streifen am Nacken, einer von einer genauso grauen Katze, die ich von der Straße holen will, aber Angst habe, dass sie uns das Haus, oder schlimmer noch, den ganzen VW-Bus verfloht, und ein ziemlich komplexer von einem Kriminalfall, den ich in mehreren Schleifen mithilfe eines abgeschliffenen Zahns löse, und das Ergebnis im Physiksaal vortrage, wo alle an einer langen Tafel sitzen, die Ingenieure, Zahnärzte, Staatsanwälte, und ich nach und nach aufrolle, wer der Täter ist, der auch am Tisch sitzt, darauf vertrauen müssend, dass am Ende alles aufgeht und sie mir glauben.
Damit ich noch in den Erinnerungen bleiben kann, angelt M mir den Laptop aus dem Fach über dem Fahrersitz rüber zum Bett, wo ich mit halb geschlossenen Augen die Träume reintippe. Als ich fertig bin, ist es 10:23 Uhr und höchste Zeit, mich draußentauglich anzuziehen. Heute soll ja der Sturm kommen, und wir wissen noch nicht, wohin wir weiterfahren. Um 11 Uhr ist check-out. In kurzen Sachen und M’s Birkenstocks stakse ich schnell mit den Muskelkaterbeinen auf den weichen Piniennadeln den Hügel runter zum Klo. Der Weg zurück ist leichter, bergauf tut es weniger weh.
M sitzt auf dem Campingstuhl vor dem Bus und liest in dem roten Buch, das er dauernd in der Hand hat, „Was man sät“ von Marieke Lucas Rijneveld.
– Sollen wir’s versuchen mit dem Check-out?, frage ich.
Ich dachte, M sagt ja, aber er rutscht noch weiter in seinem Stuhl hinunter und sagt, er will heute eigentlich gar nix müssen, es gehe ihm wie mir gestern, erschöpft.
Es dauert kurz, aber dann fühle ich mich erleichtert, wir bleiben also hier – und ein geschäftiges Treiben beginnt.
M schnallt die Fahrräder vom Träger, ich spanne die Wäscheleine zwischen die Pinien und hänge alle Schlafsachen zum Lüften auf, die Klamotten, Bettdecke, den Schlafsack, alles riecht verbraucht und die Decke stinkt.
M packt den Klapptisch, die restlichen Stühle, die beiden Teppiche und die von mir so gern gemochte Liege mit dem 70er-Jahre-Blumenpolster aus dem Kofferraum, und ich verteile alles vor dem Bus. Stelle die Flipflops in einer Reihe auf den Teppich, und fange dann an, drinnen den Boden zu fegen und die Fußmatten auszuklopfen, während M das Geschirr von gestern Abend spült. Wir machen Haushalt.
M organisiert uns sogar Strom und schließt ein langes dickes Kabel an das Stromkästchen hinter dem Bus an. Es lädt zuerst der Laptop, der nur noch 10 % hat, und danach warten die große und die kleine Powerbank, Ms Geschäftshandy, mein deutsches Handy, sein iPhone, mein neuseeländisches Handy, ich habe alles auf dem Fahrersitz aufgereiht.
Heute können wir uns in Ruhe um alles kümmern, es ist herrlich. Ich setze mich auf die Liege und ziehe das Kärtchen für heute aus dem Chill-mal-nach-Hause Kartenset von Karin Drawings, ein schönes, leichtes Kärtchen, ganz anders als gestern morgen.
Das Wesentliche ist sehr einfach, steht darauf.
M reibt sich inzwischen mit dem Rücken an einer Pinie, wie ein Braunbär, der sich kratzt, auch mit demselben Gesichtsausdruck, nur hat er noch einen Massageball unter dem Schulterblatt.
Für das Frühstück stampfe ich Cashewnüsse mit einem Glas klein, ein Trick von M. So kleingestampft hat er mir die ersten Tage die Nüsse im Porridge untergejubelt, ohne dass ich es gemerkt habe. Dann muss ich wieder runter zum Klo und auf dem Rückweg folge ich dem Piscine-Schild, das ich gestern bei unserem Ankommen gesehen habe. Es geht hügelan durch die Pinien einmal in großem Bogen um den Campingplatz, bis ich den Pool finde. Am geschlossenen Tor hängt ein Schild:
open 10:00-13:00
15:00-18:30
Dann ist es jetzt wohl nach 13 Uhr. Ich folge dem Weg auf der anderen Seite bergab und stoße nach nur ein paar Metern auf den alten weißen VW-Bus, ach, da ist schon unser Platz! Drinnen steht M am Gasherd, Porridge im Topf, aber es riecht auch nach Knoblauch und krossem Brot. Auf dem Tisch liegt pan con tomate, das er mit dem labbrigen Baguette und den angedatschten Tomaten gemacht hat. Es ist wunderbar. Nur das Porridge danach schmeckt ein bisschen komisch, weil der Knoblauchgeschmack sich in den Poren der Zunge hält.
Beim Essen setzen sich Fliegen auf meine nackten Beine, die Arme, die Haare, ich ziehe mich in den Bus zurück, wo sich noch mehr Fliegen tummeln, die ich mühsam eine nach der anderen mit dem Snapy fange und rauswerfe. Nach einer Weile kommt M und hilft mir, obwohl ihn wundert, wie es mich stört. Es sind bestimmt fünfzehn, zwanzig, irgendwann schleudere ich das Geschirrtuch um mich, weg von meiner Haut!!
Als der Bus fliegenfrei ist, lege mich auf der noch ausgeklappten Matratze lang und ruhe mich aus. M spannt derweil die Hängematte zwischen die Bäume und legt sich zum Lesen rein. Das mit dem Sturm hält sich bisher in Grenzen, ab und zu eine rauschende Böe, die den Teppich unter den Stühlen wölbt, und die Bettsachen, die an der Wäscheleine vor- und zurückschwingen.
Ich schalte mein Handy an. Ein paar Nachrichten auf Signal, meine Schwester schreibt in die Familiengruppe, dass Rs Vater jetzt überraschend entlassen wurde und sie das nicht richtig findet. Vor kurzem wurde er noch wegen Corona beatmet. K aus Neuseeland schreibt, dass er dankbar ist, dass es wärmer wird, er ist „so so sick of bad weather“. Und PK fragt vor 20 Minuten, ob sie im falschen meeting sei oder ich noch nicht da? Oh, unser Diss-Treffen!
Ich rufe sie an und erkläre, dass ich seit Tagen nicht in den Kalender geschaut habe. Sie sagt, ihr sei es nur recht, weil sie noch so viel zu tun hätte vor dem Umzug, und für die Diss sowieso keinen Kopf. Wir erzählen stattdessen ein bisschen aus dem richtigen Leben. PK von ihrem absurd-lustigen Bewerbungsgespräch mit einem Psychologieprof und was sie in den letzten Wochen alles erreicht hat. Es geht voran auf ihrem Karriereweg! Ich von dem Urlaub, der mir wie eine Entwicklungsreise vorkommt, jeden Tag eine challenge, bis auf heute, heute ist ja Ruhetag. Die challenges sind eigentlich alle emotionaler Art und haben mit Bedürfnissen zu tun, nach Nähe, Verbundensein – und Abgrenzung, auf den eigenen Beinen stehen. Wobei das mit den Beinen ja nun schwierig ist. Nicht nur wegen dem Muskelkater von der Canyontour (hier auf Sardinien gibt es einen Canyon), sondern vor allem wegen dem Knie. Das Knie kommt vom Kentern gestern.
Ich erzähle PK von der Kajaktour, Seekajaks, viel länger und weniger wendig als die, die ich vom Unisport kenne. Es war alles gutgegangen, bis wir beschlossen, Rast an einer kleinen Bucht zu machen. M spülte eine Welle geschmeidig an Land, aber ich wurde einen ganzen Satz nach vorne zu den großen Steinen geschoben, und dann erwischte mich eine weitere Welle schräg von hinten, riss das Kajak herum, schleuderte mich raus und tauchte mich unter, und das Kajak knallte gegen mein Knie, das jetzt dick und blau ist. Viel schlimmer aber war für mich der Gedanke, wie wir von dort bloß wieder wegkommen sollten.
In allen Details berichte ich, wie uns gespannt der ganze Strand zusah, und uns dann ein Typ ansprach, sehr hilfsbereit, aber heimlich mit den Augen rollend, weil wir quasi gar nichts können, auch nicht Eskimotieren, und uns zeigte, wie es geht mit dem Rauspaddeln bei den Wellen. Und wie ich es dann wagte, im Kajak unter dem Spritzschutz sitzend, fest entschlossen auf die erste Welle zupaddelnd, die mich sanft hochnahm und dann direkt danach in die Riesenwelle rein, die gerade so nicht über mir brach, sondern mich noch höher in die Luft und dann wieder nach unten gleiten ließ ins ruhige Meer hinter den Bojen.
– Krass, sagt PK.
Nachdem wir beide auserzählt haben, das dauert genau 45 Minuten, sage ich ihr noch, wie gern ich sie habe und wir legen auf, und ich lege mich probeweise in die Hängematte, aus der M gerade aufgestanden ist.
– Da kommst du jetzt sicher eh nicht mehr raus, sagt er, und hat recht.
Irgendwann am Nachmittag gehen wir hoch zum Pool, der kälter ist als das Meer. Der Wind fegt immer wieder über das Wasser. Aber das Schwimmen ist schön, und geht auch beinschonend. Nach ein paar Bahnen kommt M dazu, krault sich durchs Becken, und dann legen wir uns auf dem warmen Steinboden ab und der Wind trocknet die Gänsehaut.
Als ich später vom Klo zurückkomme, ich war spontan noch gleich warm duschen, ist niemand mehr am Pool, auch M nicht. Ich setze mich wieder auf den Stein und lasse mir die Sonne auf die Haut scheinen, das ist vielleicht das letzte Mal in diesem Jahr im Bikini. Bis M wieder vorbeikommt und schimpft, ich wäre mindestens eine halbe Stunde weg gewesen und was ich immer so lange mache und wenn ich noch mitkommen wolle zum Meer, dann jetzt, in einer Stunde wird es ja schon dunkel! Zurück an unserem Platz ziehe ich mich schnell um und nehme noch ein Jäckchen für später mit. Auf dem Weg spricht uns ein Typ an, der mir heute morgen schon seltsam erfreut Hallo gesagt hat, ob wir uns nicht vom Campingplatz auf La Maddalena kennen. M erinnert sich sofort, das waren da anscheinend unsere Nachbarn, ich erkenne ihn überhaupt nicht. Gesichtsblind, nennt man das, glaube ich, ein hässliches Wort.
Wir laufen durch den Ort, Cala Ganone, an einer Eisdiele vorbei, wo M sich zwei Kugeln holt, die hier nicht Kugeln, sondern gusti heißen, am Kajakverleih vorbei, mit den Barfußschuhen durch den Strandkies und dann auf der Mauer in Richtung Serpentinenstraße. Die ganze Zeit schauen wir aufs Meer. Es kräuselt sich blauweiß und der Wind malt darauf in allen Schattierungen.
– Willst du eigentlich noch zu Cala Fritzgerlado?, fragt M.
– Nach… wo?
– Na, das heißt doch so… Fizzgolio?
Was er meint, ist Cala Goloritze, die Bucht, die Ellen mir empfohlen hat, mit dem schönen Wanderweg. M erfindet immer seine eigenen Namen.
Oben an der Straße angekommen ist blaue Stunde, wir machen Fotos und gehen die Serpentinen entlang, einen Gehweg gibt es nicht, nur ab und an Haltebuchten, auf denen VW-Busse stehen. Auf dem Rückweg muss ich die Beine unter den Schenkeln anheben und Treppen runterlupfen. Irgendwann fange ich an zu singen, fiesta, fiesta, mexicana… woher das kommt, weiß ich nicht, vielleicht Restaurantmusik aus den letzten Tagen. M behauptet, ich singe schief und leiernd, aber es hört nicht auf aus mir herauszusummen. Im Ort kaufen wir noch Postkarten in zwei der kleinen Lädchen.
Dann kommt der Stress. Es ist nach 20 Uhr, dunkle Nacht, und wir müssen noch das Geschirr von heute morgen spülen, kochen, essen, wieder spülen, Bett richten, usw. Wir kochen Pasta, wie immer. Es folgt wieder ein geschäftiges Rumräumen auf den 2,3 qm, die uns Wohnzimmer und Küche sind, und ich mache die Schiebetür immer mit einem Wumms zu, weil es kalt ist – die Nachbarn haben schon Daunenjacken mit Kapuzen an! – und M macht sie wieder auf, weil er dauernd rein und raus muss.
– Schau mal, ist das wieder zu viel Öl?
Er hält mir die Pfanne hin, in der eine große Lache Olivenöl schwimmt. Mit einem Teil davon öle ich dann großzügig meine Beine und das Gesicht ein.
– Kannst du bitte noch die Karotten spülen?, frage ich.
Er sagt, ja klar, und nimmt einen großen Schluck aus der Wasserflasche.
– Neiin! Nicht mit dem Mund!!
So spült er manchmal auch das Geschirr, indem er das Wasser aus dem Mund fließen lässt – wie aus einem Hahn, findet er – aber ich muss immer beide Augen zudrücken. Die Alternative wäre allerdings, es selbst zu machen, worauf ich auch keine Lust habe.
Jetzt ist 22:22 Uhr, M macht gerade die zweite Portion Pasta warm, gleich noch Wäsche abhängen, denn der Wind wird stärker und schaukelt den Bus, und dann ist unser Ruhetag vorbei.
– Fahren wir morgen eigentlich weiter oder bleiben wir noch hier?, fragt M, bevor er die Hängematte reinholt.
– Das haben wir noch nicht entschieden.
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