27. September 2021 – von Rina Konrad

Beim Aufwachen vermisse ich K so sehr, dass es mir ein Loch in den Bauch reißt.

Habe glaube ich von ihm geträumt. Erinnere mich, wie ich mit meiner Schwester in unserem alten Kinderzimmer war, aus ihrem mp3 Player kam absolut nervtötende Popmusik. Aber da war das Loch schon da. Davor waren wir unterwegs gewesen, draußen, andere und ich, K’s Freunde vielleicht. Ja. Im lichtdurchfluteten Wald waren wir und da fiel es mir wieder ein. Dass K jetzt mit N zusammen war, und was sie jetzt wohl zusammen machten, in K’s Wohnung im Lockdown. Da fing es an mit dem Loch, das mich immer weiter in sich hineinzieht, wie wenn etwas in mir sehr tief ein- und noch mehr ein- aber nie mehr ausatmet.

Ich schwitze und mir ist kalt. Der Wecker hat noch nicht geklingelt, also muss es vor 11 Uhr sein. Nase verstopft, Nebenhöhlen auch, unten die Beine schwer wie tot.

Gestern Nacht hatte ich ihn noch angeschrieben über unseren Signal-Chat. Ich musste es einfach mit ihm teilen, es ging nicht anders.

Guess where I am!

Er antwortete sofort. Europa-Park?

Better!

There’s somewhere better than Europa Park in Germany and you didn’t take me there?! 😦

It’s because you have an even better version of it in NZ!

Ich musste kurz lachen, wie kam er bloß auf den Europa-Park, K und seine Achterbahnliebe. Ich schickte ihm ein Foto von mir, ein Selfie, in die Kamera strahlend, die dunkelblaue Merino-Possum-Mütze aus Neuseeland auf dem Kopf, im Hintergrund in sanftem blau die Ostsee. Es ist das erste Foto, das ich von mir schickte, seit ich von N weiß.

Er schrieb nicht, wie schön ich bin, sondern Awww, you look so chuffed to be at the sea! :), und das stimmte ja auch, eigentlich.

Ich bin schon seit zwei Jahren wieder in Deutschland, aber als ich gestern auf den Strand von Prora zulief und das Meer vor mir auftauchte, sprach ich es auf Englisch an. Hello sea. Die Gedanken formten sich automatisch auf Englisch, die ganze Zeit, barfuß auf dem Sand nach Binz. Das Meer scheint mit der Sprache verknüpft, mit K und meinem leichten Leben in Neuseeland, das hundert Jahre her sein muss, prä-pandemisch.

Eine neue Nachricht auf Signal. Aber nicht von K, sondern von D. Auf dem anderen, dem deutschen Handy läuft schon „Hypnose – Schmerzen lindern und Heilung anregen“. Ich ertrage keine Sekunde Stille, die Rückstände des Lochs mit seinen zackigen Rändern im Bauch. Ich liege auf dem Rücken und versuche hineinzuatmen, das in mir irgendwie mit Luft zu füllen, höre gleichzeitig der Hypnose zu und spiele D’s Audionachricht ab.

Er erzählt vom Klimastreik in Tübingen und fragt ganz am Ende in den letzten Sekunden nach K, weil ich ihm vor einer Weile erzählt hatte, dass mir das Loslassen schwerfällt. D sorgt sich um mich. Tränen steigen hoch. Ich checke meine E-Mails. Mein Vorgesetzter hat den Urlaub jetzt bewilligt, gut.

Das Loch ist nicht nur der Abschied von K. Es ist auch der Abschied von allem, was ich mit ihm verbinde. „Es geht mir jeden Tag in jeder Hinsicht immer besser. Ich bin gesund und bleibe gesund“, sagt die Hypnosestimme aus dem Handy.

Ich höre die Haustür, M’s Schritte, er kommt zu mir ins Zimmer. Sofort richte ich mich auf, schuldbewusst, strecke die Hand nach ihm aus. Er lächelt mich an und nimmt sie.

„Es tut mir Leid, dass ich gestern so kratzbürstig zu dir war.“

„Was, wann?“

„Gestern, die ganze Zeit.“

„Du warst doch nicht kratzbürstig. Ich war kratzbürstig. Ich wollte mich auch bei dir entschuldigen. Es ist nämlich-“ Er holt mit der anderen Hand eine Postkarte hinter seinem Rücken hervor, darauf steht groß mit schwarzer Schrift auf weißem Hintergrund: … ALLES SCHÖNER MIT DIR. Untendrunter ist ein fröhlicher Fisch gemalt.

Ach, M. Beim Frühstück erkläre ich ihm, dass ich es wieder mit der alten Strategie versucht hatte: unangenehme Gefühle unterdrücken. Wegen K, dem Job, der Wahlergebnisse. M trank gestern fast eine Flasche Weißwein und schaute stundenlang Berichterstattung, Talkshows und alles, und ich versuchte möglichst wenig davon mitzukriegen.

Ich merke, dass ich auf der Kippe stehe, krank zu werden. Wenn ich das Ruder noch rumreißen will, hilft nur hinschauen, anerkennen, was ist, geduldig mit mir sein. Nicht: reiß dich mal zusammen. Nicht: sei doch nicht so empfindlich. Nicht mehr das, was ich lange gelernt hatte. M hört zu und nickt, ich weine ein bisschen, es löst sich was, fülle den Bauch mit Honigvollkorndinkelbrot und Tee.

Als wir loskommen ist es kurz vor 14 Uhr, aber das macht nichts, es soll heute ja nicht regnen, und wir werden einfach ganz gemütlich machen. Wir fahren zum Nationalpark Jasmund. Ich hatte letztens in der BahnMobil vom Hochuferweg gelesen und den wandern wir heute, von Sassnitz nach Lohme, das sind etwa 12km, und dann wieder mit dem Bus zurück zum Auto. Es kommt mir genauso unwirklich vor, wie gestern, dass wir jetzt hier sind, auf Rügen, am Meer.

Am Parkplatz in Sassnitz wird M direkt von einem Rheinmainländer-Ehepaar angesprochen, das dasselbe Autokennzeichen hat. Der Mann kommt sogar zu mir zur Beifahrertür und hält mir sein Handy hin, um mir ungefragt und überfreundlich die Fotos vom Königsstuhl, das ist einer der Kreidefelsen, zu zeigen, damit ich schon mal schauen kann. Die Frau sagt, der letzte Bus fahre aber schon bald zurück, ob wir das wüssten? Wissen wir nicht. Es stellt sich raus: Wir werden es nicht mehr schaffen bis nach Lohme.

„Komm, wir gehen trotzdem, dann kehren wir halt irgendwann um“, sage ich und ziehe M hinter mir her, der lieber runter zum Wasser will. Der Weg ist breit und führt durch einen Buchenwald, M zeigt mir zwei Kleiber, die am senkrechten Baumstamm hochlaufen. Wir gehen ein Stück bergan und von oben sehen wir direkt unter uns das blaue Meer, wie es auf die Klippen zuschäumt.

Auf den Steinen unten laufen Leute, M will wieder runter, ich sage, ich hätte gelesen, das sei verboten, er sagt, das können die doch nicht verbieten, das hat bestimmt versicherungsrechtliche Gründe, falls was vom Kreidefelsen abstürzt. Ich sage, wir machen nichts was verboten ist, und erzähle ihm von der Rügen-Doku, die ich aus irgendeinem Grund vor ein paar Wochen gesehen hatte, und den traurig-verzweifelt, aber irgendwie auch schon hoffnungslosen Blick des Rangers, wenn er auf die tausenden dummen Touristen trifft, die die ganze Gegend kaputt trampeln. M sagt, die Doku kenne er, die hätten wir zusammen gesehen.

Es ist ein richtiger Wald mit Totholz, Zersetzung, Lebensräumen für Vögel und Insekten. Wir begegnen kaum jemandem. Ach, Bäume, sage ich zufrieden, und M sagt: „Jaja, Bäume. Wenn du am Freitag dein Seminar hast, gehe ich nach Binz und stelle mich auf die Promenade und bade in Menschen!“ Wir lachen. Er will immer unter Leute und ich immer in die Stille, das haben wir schon herausgefunden.

Der Weg führt uns wieder an den Rand der Klippen, wo wir auf das Meer schauen. Es fühlt sich an, als wäre es gar nicht echt, als wäre es auf Video. 

Dann kommt ein Schild: Königsstuhl 5km. So weit können wir unmöglich schon gelaufen sein. Auf dem letzten Schild stand noch: Königsstuhl 14km. „Das war bestimmt hin und zurück!“, sagt M. Aber wer schreibt denn die doppelte Weglänge auf ein Schild, wenn es gar kein Rundweg ist. Trotzdem Hoffnung: schaffen wir es vielleicht doch noch bis zum Bus in Lohme? Wir gehen schneller.

M will wieder runter zum Fuß der Klippen, ich nicht. Als es weiter bergauf geht, fangen die neuen Wanderschuhe an zu drücken. Ich ziehe sie aus. Halte Schritt mit M, obwohl mir spitze Waldbodenstöcke und Steinchen in die Haut bohren. Der Boden ist eiskalt. Vielleicht hilft mir das, zu verstehen, dass ich wirklich hier bin. M war gestern im Meer, bis zum Hals, ein kleines Stück schwimmen, und sagt, das war ein befriedigendes Gefühl.

Ein paar Mal müssen wir schmale Holzbohlentreppen ein steiles Stück Wald runter und dann wieder rauf gehen und jedes Mal kommen uns Leute entgegen, M drückt sich einfach vorbei, ich warte, daran denkend, dass die Delta-Variante vielleicht ansteckend ist wie Windpocken.

Wir machen nur kurze Pinkel- und Fotostopps und einmal eine Käsebrotpause. Mit dem Brot in der einen und der Thermoskanne in der anderen Hand lege ich den Kopf in den Nacken. Wenn man geradeaus schaut wirkt der Wald fast leer, unzählige Bäume zwar, aber große Lücken zwischen ihnen, und schaut man dann an ihnen hoch, ist der Himmel voll, bedeckt von hellgrünen Blättern, so dicht, dass fast kein Licht nach unten durchdringt. Das Kleine, was noch aus der Erde wachsen wollen würde, bleibt im Schatten.

Wie aus dem Nichts kommt ein Parkplatz, mitten im Wald. Die geteerte Straße, Busse, Autos wirken wie monströse Fremdkörper. Dann ist hier wohl der Königsstuhl. Wir folgen den Menschen in Richtung Aussichtsplattform, die kostet aber 5 Euro Eintritt. „Das ist schon der Abendpreis“, sagt der Kassierer. Das machen wir nicht. M fragt, wie weit es jetzt noch bis Lohme sei und der Kassierer sagt, der Weg sei nicht schön, es gehe jetzt nur durch den Wald, nicht mehr an der Küste entlang, und um den Bus zu kriegen, müssten wir uns richtig beeilen.

Wir laufen weiter, denn ich bin noch nicht fertig, ich bin ja noch nicht hier angekommen. „Der Weg ist jetzt aber langweilig“, sagt M. nach ein paar hundert Metern. Das stimmt. Ich gehe jetzt wie automatisch, den Blick nach innen gewendet. M und ich reden darüber, wie Menschen Entscheidungen treffen, im Allgemeinen und im Speziellen (er, ich, Freunde von uns). Wir sprechen über unbewusste Routinen, durch die das meiste schon vorentschieden ist, über Krisen, die gefährlich sind für unser Funktionieren – und die einzige Möglichkeit für Bildungsprozesse. Ich erzähle ihm von Oevermanns Begriffen, wir reden über meine Diss.

An einer kleinen Wegkreuzung überzeugt M mich doch noch nach unten zu gehen zum Meer, hier sind auch keine Kreidefelsen mehr, die hoch und brüchig über uns aufragen. Noch 2km bis Lohme steht auf dem Schild.

„Was, waren wir jetzt so schnell?“, frage ich verwundert, „da sind wir ja fast geflogen!“ M geht direkt auf den Steinen, ich auf dem Waldweg parallel, schaue immer wieder zu ihm hin und in das blau dahinter. Wie die Wellen unaufhörlich heranrollen, wie es rauscht. Kurz vorm Hafen endet der Waldweg, wir springen jetzt beide auf den großen Steinen direkt vorm Wasser. M kennt den kleinen Hafen schon von einer Segeltour vor vielen Jahren.

Am Hafen gehe ich aufs Klo, das kostet eigentlich 50 Cent, aber ich bleibe bei meinem Prinzip, ich bezahle nicht für Toiletten. Das habe ich mir trotzig abgewöhnt. Steuergelder fließen in sinnlose Flughäfen, Autobahnen, allerlei Umweltscheiße, aber eine Infrastruktur zu schaffen für ein Grundbedürfnis, das jede*r hat, geht nicht? Saubere, kostenlose, rollstuhlgerechte öffentliche Toiletten – ich vermisse sie überall und für alle, vor allem für obdachlose Menschen, Kinder, Schwangere, alte Leute, für all die mit kleinerer Blase, häufigem Harndrang, Periode!! Erinnere mich an das Hassgefühl in Kiel als ich nach langem Suchen eine öffentliche Toilette fand. Für Männer kostenlos, Frauen mussten zahlen.

Der Hafenmeister bemerkt vielleicht meinen entschlossenen Blick, er gibt jedenfalls nach kurzem Wortwechsel und ohne Geldübergabe den Türcode für mich ein, ansonsten hätte ich nochmal in den Wald zurückgemusst.

In Lohme (oder Lohmé, wie M die ganze Zeit sagt) warten wir fast eine halbe Stunde auf den Bus, essen Käsebrot und fahren dann zurück in die Ferienwohnung. M versucht die Buchung zu verlängern bis Sonntag. Es geht nicht, dann stundenlange Internetrecherche.

Nach 23 Uhr ruft überraschend meine Schwester an, fragt erstickt, wie es mir geht.

„Ähm, ganz gut, aber du klingst nicht so gut…?“

„Eigentlich ist gar nichts passiert“, sagt sie weinend, und erzählt nach und nach vom Gefühl benutzt worden zu sein, ungeliebt zu sein. Von den Verletzungen durch den letzten Mann, ihrem sehnlichen Wunsch nach Kindern, wie sie auch immer von allen gefragt wird, wieso sie denn noch keine hätte.

Sie hat heute morgen versucht, einen Termin bei einem Psychiater zu bekommen, überall Warteliste. Sie will es vielleicht mit Medikamenten versuchen. Es geht ihr schon länger schlecht, ich weiß das. Ich weiß trotzdem nicht, was ich sagen soll. Ich wäre gerne weich und mitfühlend, tröstend, liebend, Liebe ausdrückend. Meine ganze große Liebe für sie kommt nicht raus, ist irgendwie verstockt. Medikamente, gut, und ich rate sachte zu Körperpsychotherapie. Der Körper sollte mitgenommen werden, nicht wie bei den meisten Psychotherapien nur die kleine Ebene, die dem Bewusstsein zugänglich ist.

„Aber ich kann doch nicht mal mit Yoga was anfangen“, sagt sie.

Ja. Das ist zwar was anderes. Aber ja. Man muss offen sein für diesen Zugang und auch bereit, den Schmerz anzugehen, anzusehen. Weiß ich ja selbst.

Jetzt ist fast wieder 3 Uhr morgens, M schläft, ich schreibe noch und denke, es ist schön, dass meine Schwester mir vertraut.

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