Die Kleine (1 Jahr alt) war nachts zwei Stunden wach und entsprechend fit bin ich beim Aufstehen…. Es ist schon erstaunlich wie andauernder Schlafmangel das Gedächtnis zu zersetzen scheint – oft weiß ich schon am Abend nicht mehr, was ich morgens gemacht habe, geschweige am Morgen des vorigen Tages…
Nach dem Frühstück mit beiden Kindern in die Kita. Der Große (3 Jahre alt) flitzt am Eingang ganz alleine durch das große Funktionsgebäude in seinen Gruppenraum im zweiten Stock, die Kleine und ich gehen zur Eingewöhnung in den Hof. Im Spätsommer ist immer eine besondere Zeit in der Kita, denn da fangen viele Kinder neu an und müssen sich eben erstmal eingewöhnen. Dementsprechend dünn sind die Nerven bei den Erzieherinnen, denn aus für mich schwer durchschaubaren organisatorischen Gründen laufen alle Eingewöhnungen gleichzeitig ab. Konkret heißt das, dass immer mindestens die Hälfte der Kinder nach ihrer Mama weint.
Nur meine Tochter nicht, sie weint nach ihrem Bruder, der – für sie schwer nachvollziehbar – immer wieder kurz am Fenster des Gruppenraumes auftaucht und verschwindet.
Wie so viele doppelt berufstätige Eltern haben meine Frau und ich uns mit der Eingewöhnung gehörig verzockt und gehen mittlerweile ganz schön auf dem Zahnfleisch. Nach sechs Wochen sah es ganz gut aus und die Kleine ging gerne drei Stunden alleine in die Kita; dann haben wir den Bogen überspannt und – gegen unsere Intuition – versucht, sie dort zum Mittagsschlaf zu lassen. Seitdem hat sie gar keine Lust mehr zu gehen und nach ein paar weiteren dramatischen Versuchen, sie alleine dort zu lassen, haben die Erzieherinnen gesagt: Kommando zurück, wir fangen wieder bei null an.
Und da meine Frau mittlerweile so viel bei der Arbeit gefehlt hat und die Stunden nachts nachholen muss, heißt dass, dass ich montags und mittwochs im Kitahof sitze und zum ersten Mal seit langem einen „ruhigen“ Moment habe, den Stapel Le Monde Diplomatique zu lesen – soweit das im Chor der traurigen „Mama, Mama“-Rufe möglich ist, und mit dem Kopf bleischwer von kurzen Nächten.
Aber natürlich kann ich bei diesem akustischen Teppich des Vermissens keinen Satz zu Ende lesen – und obwohl ich mich für einen modernen, das heißt in Berlin: Fremdbetreuung prinzipiell bejahenden Vater halte, komme ich sehr ins Zweifeln, wenn ich die kleinen verweinten Gesichter sehe – und den oft erfolglosen und hölzernen Trostversuchen der Erzieherinnen zuhöre.
„Warum weinst Du denn, Du bist doch schon ein großes Mädchen?“
„Weil ich Angst habe, dass ich meine Mama vergesse“, sagt das erstaunlich sprachbegabte große Mädchen, das zweieinhalb Jahre alt ist.
Als das allgemeine Weinen auch nach einer halben Stunde nicht abebbt, erbarmen sich die ersten Erzieherinnen, und rufen einige der so ersehnten Mamas an, die binnen Minuten da sind, um ihre Kleinen wieder einzusammeln.
Dann Übergabe unserer Kleinen an meine Frau und schnell mit dem Rad quer durch die – um elf Uhr herrliche leere – Stadt zur Arbeit.
Dort ist so ein richtiger Montag, das heißt: außer mir kaum jemand da, auch und vor allem der Chef nicht. Also erstmal Espresso machen und die Kommentare zur Wahl lesen.
Später dann doch noch Kundschaft: zum ersten Mal seit langem berate ich ohne Maske und bin seltsam berührt, von dem, was ich erzählt bekomme. Vielleicht macht es doch Sinn, dieser Job.
Dann ab zu einem Zeitschriftenladen in der abgerockten Einkaufspassage, die ihre besten Zeiten lange hinter sich hat. Der Zeitschriftenladen ist eine Art Ersatz-Post für meinen Stadtteil, seitdem die eigentliche Post nicht mehr funktioniert und das Online-Shopping, wohl bedingt durch die Pandemie, explodiert ist.
Aber die Schlange geht sicher 50 Meter aus dem Laden fast bis auf die Straße und ich beschließe, lieber pünktlich zur Geburtsfeier von P zu gehen, mit der wir uns gerade versuchen anzufreunden. Ich bin nervös, weil wir P sehr gerne haben, und kaufe eine fast peinliche Menge an Getränken zum Mitbringen.
Als ich ankomme ist P aber gar nicht da. Stattdessen empfängt mich M, ihr Freund: P sei noch beim Elternabend, wir machen als Überraschung Sushi für Sie, ihr Lieblingsessen.
Ich bin zum ersten Mal bei Ihnen zu Hause und M führt mich durch die Wohnung. Sie ist unheimlich gemütlich und – sie hat vier Zimmer! Nach 16 Jahren in Berlin betrete ich damit zum ersten Mal eine Vier-Zimmerwohnung; ich weiß nicht wohin vor Neid und trinke gleich zu viel Bier. Überhaupt, zum ersten Mal Alkohol, seit dem Schreck vor vier Wochen beim Arzt…
Mittlerweile sind auch meine Frau und die beiden Kleinen da und zusammen mit dem Sohn von P und M stellen sie die Wohnung auf den Kopf, dass es eine reine Freude ist.
Das Sushi schmeckt irgendwie nicht so richtig, und weil die Kleine am Krankwerden ist und viel weint, kann ich mich kaum auf M und P konzentrieren. Aber als wir um zwanzig Uhr draußen stehen – im Hemd, so warm ist es noch – war es doch ein schöner Abend gewesen. Ich muss fast lachen – so „lang“ waren wir seit Jahren nicht aus.
Unsere Kleine schläft noch auf dem Heimweg in der Trage ein, während ich ihr leise das merkwürdige Lied vorsinge, das neulich zu mir gekommen ist, und das ich selbst nicht verstehe:
„Sei nicht traurig kleiner Mauselzahn,
bald fahr’n wir wieder auf der Autobahn.“
Es ist wirklich ein ungewöhnlicher Text. Wenn ich darüber nachdenke, dann fallen mir die vielen Autofahrten als Kind ein, immer mit meinem Vater am Steuer, bei denen ich mich so geborgen gefühlt habe.
Unser Großer läuft den ganzen Weg nach Hause und schafft es bis in den zweiten Stock, bis er sagt: Meine Beine haben keine Kraft. Dann gebe ich ihm meine „Krafthand“ und wundere mich, inwieweit ich zuviel Cremant getrunken habe, denn so esoterisch kenne ich mich eigentlich nicht. Ich wundere mich auch, dass er ohne zu Murren bis in den vierten Stock läuft, bis nach Hause in unsere wundervolle Drei-Zimmerwohnung.
Wenig später schläft er zu Pippi Langstrumpf ein – und meine Frau gleich mit.
Mit meinen Liebsten um mich herum schaue ich Netflix auf dem Handy mit Kopfhörern, Marriage Story von Noah Baumbach. Ich hoffe so sehr – vor allem für unsere Kinder – dass wir uns nie scheiden lassen.
Da ich unbedingt wissen will, wie es ausgeht, sehe ich viel zu lange fern und es ist nach 23 Uhr, als ich mit dem Haushalt anfange.
Als ich kurz vor 12 wieder zu meinen Lieben ins Bett krieche, fällt mir mit Schrecken ein, dass ich wegen des spannenden Filmes ganz vergessen habe, meine Frau zu wecken, die noch hätte arbeiten müssen.
Während ich überlege, ob ich am nächsten Tag einfach behaupten soll, ich hätte sie zu wecken versucht, aber sie sei nicht aufgewacht, oder die Wahrheit sagen soll, schlafe auch ich ein.
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