27. September 2021 – von Viktor Funk

Du liegst jetzt in einer Jugendherberge etwa 60 Kilometer von zu Hause entfernt und schläfst. Jedenfalls hoffe ich, dass du schläfst. Es ist immerhin schon 23.09 Uhr an diesem 27. September. Wie aufgeregt du gestern warst – deine erste Klassenfahrt. Zweimal wurdest du enttäuscht, als die Fahrt wegen Corona einmal und dann noch einmal verschoben wurde. Und dann, kurz vor dieser Reise, ein Corona-Fall in deiner Klasse. Aber alles ging am Ende gut, ihr konntet fahren.

Weißt du, was ich mag? Dass du mir sagen kannst, du hättest ein wenig Angst und wolltest doch so gerne dahin. Ich bin froh, dass du mir deine Gefühle zeigst und mit mir redest.

In Deinem Alter war ich auch das erste Mal auf einer Fahrt ohne meine Eltern, allerdings gleich mehrere Wochen. Ein Sportlager in der Steppe, große Gruppenschlafräume, Wanderungen, Eidechsenjagd, Angeln und Sauna-Gänge. Nachts haben wir Zahnpasta anderen Kindern in die Handfläche geschmiert, wir haben uns krankgestellt, wenn wir keine Ausflüge machen wollten und dann geangelt, während die anderen Berge besteigen mussten. Wir orientierten uns an Älteren, bastelten kleine Bomben aus Streichhölzern und drängelten um die Löcher in den Holzwänden der Waschhäuser, wenn die Mädchen Waschtag hatten.

Ich hoffe, du bastelst keine Streichholzbomben.

Seit Deiner Geburt notiere ich Momente aus deinem Leben. Viel zu viele habe ich nicht aufgeschrieben. Vergessen, müde, beschäftigt – viel zu oft ist irgendwas. Heute nicht, heute schreibe ich das auf.

Wenn du aufgeregt bist, weiß du nicht, wohin mit all der Energie, die in dir brodelt. Ich sage manchmal: atme tief ein und lange aus. Du machst das einmal, zweimal … und dann ist alle Aufregung wieder da. Vielleicht hilft das mir mehr als dir, wenn ich parallel zu dir tief ein- und wieder ausatme. Jedenfalls bilde ich mir ein, dass es nicht sinnlos sei, dir das zu zeigen.

Du konntest noch nicht einmal in Ruhe den Koffer gestern mit mir packen. Du legtest etwas hinein, sprangst auf, ranntest weg und kamst wieder. Das ging eine ganze Weile so, bis du dich auf den kleinen Koffer draufsetzten musstest, damit ich ihn schließen konnte. Spät war es geworden, als wir fertig waren. Aber schlafen konntest du nicht. Ich solle bei dir am Bett bleiben. Wie lange das schon her ist, dass du mich das gebeten hattest? Ich blieb sitzen. Du nahmst meine Hand. Und dann nach einigen Sekunden, in denen du meine Hand immer wieder gedrückt hast, ließ der Druck nach und deine Hand ließ meine los.

Kurz vor fünf dann riefst du mich, auch das ist schon lange nicht mehr passiert. Du hattest Durst. Du hast noch nicht einmal deine Augen aufgemacht, als du trankst. Dann fielst du wieder in den Schlaf.

Sobald wir den Schulhof betraten, warst du weg. Ich meine in deinen Gedanken, nicht körperlich. Du warst ganz bei deinem neuen Freund. Ihr wart sofort in ein Gespräch verwickelt, ich habe ein paar Mal versucht, dir Tschüss zu sagen und eine schöne Woche zu wünschen – vergeblich.

Du warst ganz bei dir, die ganze Aufregung war mit einem Mal weg. Die Freude über den Freund und die Vorfreude auf die gemeinsame Zeit hatte dich ganz eingenommen. Am Schultor drehte ich mich noch einmal um und du riefst mir zu, Tschüss, Papa.

Ich freute mich und ging.

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