Bis nach Mitternacht lese ich Gusel Jachina, Suleika öffnet die Augen. Bis Krasnojarsk bin ich schon gekommen, ein bisschen fassungslos und voller Bewunderung. So fieberhaft und ausdauernd habe ich lange nicht gelesen, sehe Sibirien an mir vorbeiziehen, seit Tagen Petr Leschenko im Ohr: Сибирь ведь тоже русская земля, Sibirien ist schließlich auch russische Erde. Ich überlege sogar, doch noch zu promovieren, kurz, bin völlig begeistert. Damit beginnt der Tag. Ich schlafe eine Weile und stehe dann mit den Kindern auf, zum ersten Mal seit Juli. Der August war frei und den September hat bis zur Vorwoche * übernommen.
Aufstehen heißt: sich über diese Uhrzeit ärgern, Wasser kochen und Wahlergebnisse checken. Ändert sich da noch was? Einsicht und Befremden. Schwarzer Tee, Filinchen mit Nutella und Brötchen mit Mango-Papaya-Aufstrich für die Kinder. Ich schicke der Königin einen Gruß, den ich nachts im Kopf skizziert habe, jetzt aufschreibe und schnell im Schlafanzug zum Briefkasten bringe.
Seit einem Tag bin ich richtig fies erkältet, niese ohne Unterlass, organic head banging. Noch ein bisschen Schlaf soll es richten, nach dem Schlaf niese ich weiter. Weil mir ständig die Nase läuft und ich eine Spur von Taschentuchmüll hinterlasse, nehme ich mir den blaugrauen DDR-Plasteeimer als Sofa-Mülleimer. Frühstück mit Tee, Äpfelchen und Brot mit Salz. In den Nachrichten: zwei Femizide in der Region. Ich lege Wäsche, und besonders gerne, mit mühsam im Zaum gehaltener Vorfreude, die neugekauften Stoffstücke. Danach erschöpft und schniefend aufs Sofa. Langsam füllt sich der graue Eimer mit zusammengeknüllten Taschentüchern. Damit ich nicht nutzlos herumliege, stricke ich Socken, marineblau Gr. 38/39. So lächerlich ich meinen Leistungsdruck finde, so wenig kann ich mich ihm entziehen. Wie eine Besengte stricke ich das Fersenkäppchen. Als die Kinder aus der Schule kommen, gibt es das letzte Fast Food vom Wochenende, kleine krümelige Teilchen, die ich zeitversetzt in den Ofen schieben muss und um die die Kinder sich streiten, die sie nach dem Anbeißen tauschen oder die unbeachtet liegenbleiben. Dann Telefonate, ich mache Termine aus und rufe in Dresden an. Ich möchte, dass wir ein bisschen erzählen, was so los ist, aber dann reden wir über die Entkulakisierung, Putin, Trump. Wo andere Leute eine Familie haben, haben wir eine Weltgeschichte für Laien. Wir hecheln mal den sowjetischen Raketenbau durch, mal Tycho de Brahes Schwester, auch gut.
Anderthalb Stunden später liege ich endlich wieder ziemlich k.o. auf dem Sofa und gebe mir nochmal die Wahlergebnisse. Wie kann es sein, dass ein Viertel aller Wahlberechtigten einen Mann wählt, der Stillstand versprochen hat? Wie kann es sein, dass der jetzt in Anbetracht der Ergebnisse über eine Jamaikakoalition redet? Ich muss an die angeregte Runde der vergangenen Sonnabendnacht denken, Kerzen, Rum, Käse, in der zwei Herren sich als Nichtwähler outeten. Einer wortlos mit Kopfschütteln, der andere rief mit dröhnender Stimme, der Staat passt einfach nicht zu mir. Noch bevor er zuende gesprochen hatte, brandete eine Woge von Widerspruch über dem Käseteller auf. Beim heutigen Blick in die Nachrichten, in den Laschet-Ticker, in die sächsischen Ergebnisse …, da passt auch nichts. Das ist dann wohl das Leben. Aber niemandem ist geholfen, wenn ich die Hände in den Taschen behalte.
Mit Sehnsucht denke ich an die Kinder, die in ihren Zimmern sind. Ich würde gerne was mit ihnen unternehmen, will sie aber auf keinen Fall anstecken.
Ich gehe kurz raus, mit schlackernden Beinen, esse die letzten Himbeeren direkt vom Strauch. Große, zarte Beeren, die mit ihrem Gewicht die Zweige des Strauchs zur Erde ziehen. Die Katze springt mit zurückgelegten Ohren und weitaufgerissenen Augen durchs Gras, ihre Schwanzspitze zuckt. Jetzt lieber nicht Maus sein. Ich sammle ein paar Äpfel auf, dazu noch Melisse, die nach der Ernte spärlich nachgewachsen ist. * kommt heim, kocht mir Tee davon, dazu gibt es Zwieback. Während ich so schnell wie möglich weiterstricke und dazu einen ganz, ganz schlechten Regionalkrimi schaue, macht er Ofenkartoffeln mit Quark. Zum Essen gucken wir die letzte Tagesschau und reden eine ganze Weile, schmusen, witzeln rum. Ich niese ein bisschen. Danach wieder mit großer Begeisterung Shtisel. Draußen wälzt es große Luftmassen auf der Straße umher, sie tragen Blätter und Regentropfen mit sich. Dicke Winde drängen durch die Linden gegenüber. Durch das geschlossene Küchenfenster ist zu hören, wie die Schüssel für den Biomüll mit einem Klonk im Hof landet. Hoffentlich war sie nicht wieder voll.
Ich leere mein Mülleimerchen und ziehe damit ins Schlafzimmer um. Die Katze schläft wie tot auf meiner Bettseite, die Pfote über die Augen gelegt. Bin sehr müde, aber Neugier und Fernweh sind stärker: bis nach Mitternacht lese ich.
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