Mein 27. September 2021 beginnt um Mitternacht, als ich den Geschirrspüler ausräume und mir noch ein Käsebrot mache. R. und ich hatten den Wahlabend bei Freund K. vor dem Fernseher verbracht und bei K. hatte es nichts zu essen gegeben, da wir uns kurzfristig verabredet hatten. Gerade sind die Zahlen in den Hochrechnungen gekippt – Berlin bekommt wohl doch keine grüne Bürgermeisterin.
Als ich etwa achteinhalb Stunden später aufwache, sitzt R. schon wach im Bett neben mir, schreibt irgendwas auf seinem Laptop und referiert die Wahlergebnisse. Ich bin enttäuscht, dass die SPD in Berlin weiterregieren wird und erleichtert, dass die CDU im Bund nicht weiterregieren wird. Wir machen das Fenster auf und schauen vom Bett aus hinaus, draußen singen die Meisen, es ist warm, fast sonnig, nur die Birke vor dem Fenster bekommt die ersten gelben Blätter.
Ich erinnere mich an den Hefeteig für Apfelbrötchen nach einem neuen Rezept, den ich am vorigen Nachmittag angesetzt hatte und wegen dem spontanen Treffen mit K. nicht mehr backen konnte. Ich stehe auf, gehe im Schlafanzug in die Küche und rolle den Teig aus. Er ist zu weich, ich knete Mehl unter, verklebe ein Brett mit Teig, fange auf der Arbeitsfläche nochmal neu an, streiche mit Ingwer, Zimt und Kardamom gewürzte weiche Butter auf den Teig und die Apfelfüllung, die in einem kleinen Topf auf dem Herd wartet. Die Menge an Füllung erscheint mir zu viel, die Streifen aus dem zusammengefalteten Teig lassen sich nicht formen, ohne dass die Füllung herausrutscht, nur mit Mühe bugsiere ich acht geschlungene Teighäufchen auf das Blech und vier weitere auf einen Teller für die zweite Backrunde. Ich schiebe das Blech in den Ofen, stelle den Handywecker auf 20 Minuten und lege mich wieder hin.
Die Apfelbrötchen gehen riesig auf, sehen erstaunlich gekonnt aus und schmecken sehr gut, buttrig, fluffig, apfelig mit zarter Gewürznote. Während das zweite Blech im Ofen ist, ziehe ich mich an, einen schwarzen selbstgenähten Wollrock, ein schwarzes, langes T-Shirt und eine dünne, schwarze Baumwollstrickjacke. R. kocht Kaffee. Beim Frühstück läuft das Radio, die üblichen Nach-Wahl-Statements rauschen an mir vorbei. R. ist auch schweigsam, wir sind beide froh, dass der Wahlkampf vorbei ist und spüren zugleich eine Lücke, wie man sie oft nach einer großen Aufgabe verspürt, nach einer Prüfung, einer Abschlussarbeit, einem wichtigen Termin, wenn das Thema, das so viel Nachdenken erforderte, auf einmal wieder unwichtig ist.
Ich habe noch keinen Plan für den Tag und fühle mich verkatert, setze mich aber an den Schreibtisch. Während ich lauter Kleinigkeiten erledige – einen Suchauftrag für ein verschwundenes Paket ausfüllen, Fotos des Arbeitsaufenthalts von letzter Woche sortieren und hochladen, Taschenbuchformate vergleichen, Seitenlayouts ausmessen – schweife ich immer wieder zu Nachrichtenseiten ab, schaue mir die Ergebnisse meines Wahlkreises an, dann die von ganz Berlin, dann die Ergebnisse bundesweit. Beim Hochladen der Fotos fällt mir auf, wie viele unnütze Dateien im Cloudspeicher liegen, ich fange an zu löschen, zu verschieben und aufzuräumen.
Mittags mache ich eine Pause mit Kaffee und Apfelbrötchen und bespreche mit R. das Abendessen. Er meint, Fischstäbchen mit süß-saurem gebratenen Gemüse könnten doch auch ein chinesisches oder japanisches Gericht sein.
Ich lese ein weiteres Kapitel aus Claire McCardells „What shall I wear?“, ein Bekleidungsratgeber aus den 50er Jahren, den mir eine befreundete Modedesignerin empfohlen hatte. Ich bin nicht so begeistert, zwar werden berufstätige Frauen erwähnt, aber der vorausgesetzte Normalfall ist doch die Vorstadthausfrau, die ihren Mann jeden Morgen zum Zug fährt und dabei Hosen tragen darf, sofern sie eine gedeckte Farbe haben – Bermudashorts aber nur, sofern sie in einer toleranten Nachbarschaft wohne.
Auf dem Weg zum Briefkasten treffe ich später die Nachbarin, die nur noch schwer die wenigen Stufen zur Eingangstür herunterkommt. Sie habe sich bei einem Krankenhausaufenthalt die Hüfte gebrochen, erzählt sie mir, und jetzt sei es wieder schlimmer geworden. Aber naja, es gehe ihr ja noch ganz gut.
Danach kann ich mich nicht entschließen, ernsthaft noch irgendetwas anzufangen, das heute fertig werden könnte, müsste oder sollte und mache ein paar Notizen zu demnächst zu schreibenden Texten (ab morgen dann!), lese online einige Artikel zum Chaos in den Berliner Wahllokalen, nehme ein Paket entgegen, während R. Fischstäbchen, Klopapier und Kartoffelchips kaufen geht. Wir kochen gemeinsam – Fischstäbchen, Pak Choi mit Ingwer, Chili, Szechuanpfeffer, Sojasauce und Reis, außerdem hat R. noch einmal Erdbeeren mitgebracht – und husten und schniefen in der Küche im Chilidunst. Wir essen, räumen die Küche auf, dann geht R. mit den Kartoffelchips und den restlichen Apfelbrötchen zu seiner Kartenspielrunde im Nachbarkiez und ich ziehe auf das Sofa um und beschäftige mich mit einem Grafikprogramm, das ich nicht allzu gut beherrsche. Gegen elf kommt R. Zurück, wir sitzen noch ein wenig herum und reden und gehen gegen Mitternacht ins Bett.
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