27. September 2021 – von NadineG

In der Nacht kracht ein Gewitter über der Stadt. Ich lausche, aber keines der Kinder wird wach. Und auch von unserer 95-jährigen Nachbarin, die in den letzten Tagen unter Zuständen der Verwirrung litt, ist nichts zu hören. Vorgestern hat sie um 4 Uhr nachts mit einem Fleischklopfer („gute DDR-Qualität“) an die Tür gehämmert und sich im Flur verbarrikadiert. S. konnte sie schließlich überzeugen sich wieder ins Bett zu legen und W. musste am nächsten Morgen mit ihrem kleinen Arm durchs Türfenster greifen, um für den Pflegedienst die Tür zu öffnen. Ich bin noch 3 Mal wach in der Nacht. Das seit Geburt so selig schlafende Baby hat gerade eine schwierige Phase. Das Baby. Hätte ich das mal vor einem Jahr gewusst, als ich den 27.September 2020 beschrieb, dass sich dieses winzige Wesen gerade auf den Weg gemacht hatte. Jetzt wird die kleine M. bald vier Monate alt. Schade, dass die erste Zeit so schnell vergeht.

Übermüdet komme ich viertel vor 8 mit M. in die Küche, in der S., A. und W. schon frühstücken und Vesperdosen packen. Ich muss erstmal unter die Dusche. A. wurde vor 3 Wochen eingeschult und der Zauber des Anfangs umgibt ihn noch ganz. Er will alles richtig und perfekt machen und es rührt mich, wie er sich morgens voller Tatendrang auf den Weg macht – die Schule ist nur eine Straße entfernt und er will unbedingt allein gehen. Mein kleiner A., der schon so viel mitgemacht hat und über den so viel gerätselt wurde – jetzt scheint es, als wäre er ein ganz normales Schulkind, das seinen Weg geht. Ich bin so stolz.

Während S. W. zum Kindergarten bringt, spiele ich ein bisschen mit M. Es fällt mir zu spät ein, dass ich eigentlich mit ihr zur Krabbelgruppe hätte spazieren können. Aber um 9.30 Uhr wird sie sowieso müde und ich lege sie für ihr Morgenschläfchen hin, während ich beginne, die Ereignisse des vergangenen Tages aufzuarbeiten. Auch während des Frühstücks mit S. ist das Wahlergebnis natürlich Thema. S. war wie immer Wahlhelfer und so konnten wir die Hochrechnungen nicht gemeinsam verfolgen. Unsere Gedanken dazu sind aber sowieso sehr ähnlich. Der Tag ist irgendwie lätschig. Das Wahlergebnis ist nicht besonders schlecht, aber auch nicht wundervoll gut. Dazu die desaströsen Zustände in Sachsen, außer in unserem Wahlkreis. Es fühlt sich an, als hätte man gerade Luft geholt und kann sich nun weder sonderlich freuen, noch sonderlich aufregen. Es ist typisch Deutschland. Bis ich alle Analysen durchgesehen habe, ist der halbe Vormittag vorbei.

M. liegt fröhlich glucksend unter dem Spielbogen, S. füllt endlich mal seinen Elterngeldantrag aus.  Was soll ich tun? Letzten Mittwoch haben wir die 3.Fassung unseres Serienpiloten abgegeben, ich hake bei der Produktion nach, ob sie schon vom Auftraggeber gehört oder die Fassung selber gelesen haben. Beides wird verneint. Ich öffne einen Brief der Deutschen Rentenversicherung. In leicht patzigem Ton werde ich darauf hingewiesen, dass ich doch meine Erziehungszeiten hätte anrechnen lassen wollen, dann aber nicht mehr geantwortet hätte (dann schreibt eure Formulare doch mal halbwegs so, dass man sie auch ausfüllen kann!) – wenn ich mich nicht zurückmelden würde, würde man den Vorgang erstmal wieder schließen. Ich stelle mir einen Beamten vor, der meinen Ordner aufgeschlagen auf seinem Schreibtisch liegen hat und im Posteingang nach meiner Antwort sucht. Ich weiß gar nicht, wo ich das Formular hingetan habe.

Ich mache die Wäsche. Es ist peinlich und furchtbar, aber die Wäsche gibt mir derzeit den Rest. Der Gedanke, dass man nach zwei Kindern genug Windelmüll für die Welt verursacht hat und es angemessen wäre, Stoffwindeln zu nutzen hat das komplette Wäschesystem korrumpiert und zum Kollaps geführt. Wir brauchen einen Trockner, sind aber zu faul uns drum zu kümmern. Ende dieses unzeitgemäßen Exkurses.

Wir gehen eine Runde mit M. spazieren und essen bei der neuen Fusionküche um die Ecke zu Mittag. Sehr lecker. Man blickt derweil in viele leere Gesichter. Alle scheinen ratlos, was das Ergebnis zu bedeuten hat. Ist das jetzt Revolution made in Germany?

Arbeitstechnisch ist es ein komplett vergeudeter Tag. Aber genau genommen bin ich ja auch in Elternzeit und außerdem stecke ich gerade in der Feedbackschleife. Ich habe bisher vergessen zu erwähnen, dass M. alle zwei Stunden trinken will und wir einen sich anbahnenden Milchstau nur dadurch lösen können, dass ich sie kopfüber neben mir aufs Bett lege. Beim Stillen lese ich das Vorwort von Radikalisierter Konservatismus. Klingt einleuchtend.

S. hat die Kisten aus dem Keller geholt. Über die Schulter sehe ich, dass zumindest er irgendwas für unser Projekt arbeitet und mit Leuten wegen Teambesetzung kommuniziert. Ich sortiere die Sommersachen aus den Schränken. Es kommt mir vor, als hätte ich sie eben erst hineingelegt und als hätten wir sie kaum getragen. Es war ein seltsamer Sommer. Ich will mich noch nicht verabschieden. Klamotten, die M. zu klein sind und die wir also nie wieder brauchen werden auszumisten, fühlt sich hingegen gut an. Mein Highlight des Jahres: sich vollständig fühlen.

15:30 Uhr. Ich radle zum Kindergarten, um W. abzuholen. Es ist schwül. Endlich verstehe ich, was mich an dem Wahlergebnis so nervt. Vor vier Jahren und vielleicht sogar vor ein paar Wochen hätte man es doch mit Kusshand genommen. Es sind die falschen Gründe! Die SPD wurde nicht gewählt, weil alle auf einmal so aufrechte Sozialdemokrat*innen und Antifaschist*innen sind, sondern weil sie als ein vernünftiger Kompromiss erschien und Scholz Merkel noch am ähnlichsten ist. Jetzt kann ich besser mit dem Ergebnis umgehen. Vielleicht bin ich zu kleinlich. Eigentlich sind die Gründe ja auch egal, solange sie dadurch 1,6% mehr haben.

W. erzählt auf dem Heimweg wieder wie ein Wasserfall, was sie gegessen hat, wer alles aus dem Urlaub zurück ist, mit wem sie gespielt und mit wem sie um die Kastanie mit dem Regenbogen gestritten hat. Wir fahren beim Rewe vorbei, weil ich noch ein paar Getränke und Snacks für heute Abend besorgen will. S. und M. haben A. von der Schule abgeholt, als wir zurückkommen und schauen Star Trek. Während ich M. noch mal zu einem kleinen Schläfchen lege, spielen die anderen Obstgarten. Danach spielen wir alle eine Runde Kwixx, die ausnahmsweise nicht W. gewinnt. Sie heult. Oje, nicht du auch noch, W.!

A. übt Klavier, S. macht Abendbrot. Die kleine M. wird gebadet und genießt es im warmen Wasser zu sein. So ein fröhliches Baby. Die Kinder schauen eine Sendung. S. liest ihnen aus ihren Büchern vor. Ich mache M. bettfertig und singe ihr vor. Das Kinderzimmer ist ein Chaos, aber keiner hat mehr Lust aufzuräumen.

Um 21 Uhr kommen A. und U. vorbei. M. schläft schon längst im Schlafzimmer, aber A. und W. müssen wir noch mal dran erinnern sich jetzt hinzulegen. Das letzte Treffen ist schon drei Wochen her, wir trinken was, updaten uns ungefähr zwei Stunden lang und spielen dann Pandemic Legacy weiter. Es ist die dritte Season, die wir jetzt zusammen spielen und hätte uns jemand gesagt, dass zwischen der zweiten und dritten Season eine einjährige Pause wegen einer echten Pandemie liegen würde, hätten wir denjenigen ja wohl für verrückt erklärt. Der Tag endet damit, dass wir den einen Auftrag lösen, den anderen knapp verpassen und der Agent, der uns Informationen über das Virus geben könnte, entwischt. Unsere Kampagne wird mit ausreichend bewertet. Ausreichend, naja. Hätte besser sein können. Passt vom Gefühl her irgendwie zum Tag. Zum Wahlergebnis. Ob das ausreichend ist? Ich bezweifle es, aber hoffe es.

Werbung

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Webseite erstellt mit WordPress.com.

Nach oben ↑

%d Bloggern gefällt das: