27. September 2021 – von Ingeborg Wollschläger (Notaufnahmeschwester)

Auf halbem Weg nach oben im Treppenabsatz steht ein Campingstuhl mit einem Pappschild: „Bitte stehen lassen für Senioren“ und ich gedenke, mich sofort hineinfallen zu lassen. Morgens ohne Aufzug in den fünften Stock – das schaffen nur körperlich sehr fitte Menschen. Oder über-Achtzigjährige, die das kennen und jeden Tag im Training sind.

Oben steht sie schon in der geöffneten Türe.  Ich schnaufe schwer, was sie zu großer Heiterkeit und auch ein wenig Stolz bewegt. „Jaja. Das mach ich jeden Tag! Da bleibt man im Training, gell?“

„Tee, Kaffee oder Magnesium?“, sind die nächsten Worte. Ich habe die Wahl der mir zur Verfügung stehenden Getränke. Im Sommer gab es immer eine im ehemaligen Senfglas aufgelöste Magnesiumtablette. „Als Erfrischung und weil Magnesium so wichtig ist!“

Bei allem darf man nicht so genau hinschauen, denn Hausarbeit ist nicht das Steckenpferd „meiner“ Seniorin, die ich immer montags besuche. Auch empfiehlt es sich, im Sessel schnell Platz zu nehmen und keinesfalls Flecken analysieren zu wollen. Auf dem Tisch ein Untersetzer mit den Teebeuteln von letzter Woche: Die Hauswirtschaftshilfe hat sich den Arm gebrochen und kommt seit mehreren Wochen schon nicht mehr. Hilfe, die sie gut brauchen würde. Ihren Haushalt selbst auf Zack zu halten: das schafft sie einfach nicht mehr. Weder emotional, noch praktisch.

Und so schaue ich nicht genau hin. Das geht gut. Wir mögen uns gerne. Es gibt Wichtigeres im Leben als streifenfreie Sauberkeit. Zum Beispiel ihr Wochenende mit all den Aufs und Abs. Ihr „Übersehen werden“ des Bastelkreises bei einer gemeinsamen Aktion und die dadurch angetriggerte Kindheitserinnerungen. Der Kummer um die nicht vorhandenen Sauberkeit der Küche und die explosive Vermehrung der Fruchtfliegen, Pläne für einen Hausflohmarkt, den sie organisiert. Alles geht kunterbunt durcheinander und vom „Hölzchen zum Stöckchen“ – und wieder zurück. Im Hintergrund dudelt das Radio die Hits der 70er, 80er und 90er Jahre.

Auf dem Sofa türmen sich Aktenordner. „Für meine Briefe!“ Sie ist leidenschaftliche Briefschreiberin mit einer Mission: Fragen klären, die geklärt werden möchten. Zumindest aus ihrer Sicht. Ob amerikanische Gospels in deutschen Gottesdienstübertragungen sein müssen – wo alte Menschen wie sie nicht mitsingen können, weil sie kein Englisch können. Wie Partei xy die Altersarmut bei Frauen zu beenden gedenkt. Ob die Stadt nicht ein Grundstück spenden könnte, damit psychisch kranke Menschen auch am Wochenende einen Ort hätten, an dem sie es schön haben und sich treffen können. Alle Ihre Anliegen werden seitenlang per Hand geschrieben, fotokopiert und dann verschickt und abgeheftet.

Fruchtfliegen mögen fröhliche Urstände bei ihr feiern – ihre Briefe und Anliegen werden je nach Anlass farblich wegsortiert. Die ehemalige Buchhalterin lebt immer noch in ihr.

So beginnen aktuell Montage bei mir.

Ich schätze diese Gespräche sehr. Kein Geplauder über Prospektangebote oder Krankheiten: hier geht es um Inniges. Niemals ist es belanglos.

Zwei Stunden, 72 Stufen hinab und 1,3 km später:

Im Seniorenheim kennen sie mich schon.  Die üblichen Formalitäten an der Rezeption sind schnell erledigt: Name, Uhrzeit, Grund des Kommens – so kann ich gleich zur nächsten Seniorin: durch das Foyer, durch den Garten über den Kiesweg, durch den Gemeinschaftsraum, in dem sechs Senioren beim Mittagessen sitzen: „Mahlzeit zusammen“. Dann die Treppe hoch und in ihr Zimmer.  Sie sitzt beim Mittagessen. Es gibt Hering in Sahnesoße mit Pellkartoffeln „Heute sind die Kartoffeln endlich mal weich, damit man sie zerdrücken kann!“, freut sich die alte Frau mit den kurzen Haaren und der kunterbunten Wollweste. Sie sitzt an ihrem Tisch und schmaust mit großem Appetit. Ich nehme – wie üblich – auf der Sitzfläche ihres Rollators Platz. Durch das geöffnete Balkonfenster hört man das Küchenpersonal bei ihrer Pause scherzen. Im Baum vor ihrem Balkon zanken sich lautstark zwei Amseln.

„Kannst du mir sagen, worin mein Sinn im Leben noch besteht?“, gibt sie zurück auf meine Frage, wie es ihr denn so geht?

Oh-ha. Auch hier kommen wir immer sehr schnell „auf den Punkt“.  Dass es gleich nach dem „Hallo“ beginnt, zeigt den Ernst ihrer Lage. Worin mag ihr Lebenssinn wohl noch bestehen? Bei einer Frau, die nach eigenen Angaben ihr „Leben“ gelebt hat und „nicht mehr will“.  Was mag es sein – so fragt sie – was ihre Seele und ihr Körper, der verfällt, hier noch zu erledigen hat? Es gibt kein „Wofür“ aktuell in ihrem Leben, wie sie mir beim Nachtisch – Birnenkompott – erzählt. Spoiler: Ich weiß es auch nicht.

Es ist ein ewig währendes Mysterium, warum Menschen, die noch so viel vom Leben haben möchten, es genommen bekommen. Andere – wie sie – jedoch scheinbar Zeit in Hülle und Fülle zur Verfügung haben und es nicht mehr möchten.

Die wichtigen Fragen des Lebens werden – noch vor dem 12-Uhr-Läuten der nahe gelegenen Kirche – nicht geklärt. Dafür fällt eine Karte mit einem Haus auf, die unter der Suppenschüssel liegt. „Das war mal mein Haus. Mit Lehmputz und Hanffasern zur Dämmung.“ Vom „Sinn des Lebens“ abkommend wandern wir durch ihr ehemaliges Haus mit dem hübschen Garten.  Sie zeigt auf die Fenster auf dem Bild und macht mit mir eine Hausführung durch ihr ökologisch einwandfrei geplantes Heim.

„Aber das interessiert ja eh keinen mehr!“

„Doch. Mich. Denn du erzählst es mir gerade!“

Mich interessiert es, wer sie war und was ihr wichtig war.

Es ist eine Ehre, mich mit diesen hochbetagten Frauen über ihr Leben zu reden. Was wichtig war und was gelungen. Was belastet und schmerzt. Welche Haltung sie zum Leben haben und ob und wo man Humor und Heiterkeit finden kann. Seit über 3 Jahren „hege“ ich die Senioren meiner Kirchengemeinde. Das ist – nach vielen Jahren in der Pflege – mein Beruf geworden. Ich besuche sie daheim oder in den Heimen, höre zu und plaudere mit ihnen. Es gibt viele offene Fragen und oft keine Antworten. Aber vielleicht ist es auch viel wichtiger, dass ihnen jemand zuhört und sich für sie interessiert.

Mittags schweige ich. Die Gespräche hallen nach. Ich bin froh, dass es keinen gibt, mit dem ich mich in der Mittagspause unterhalten „muss“. Wer viel redet, muss auch viel schweigen. Ausgleich und so.

Am Nachmittag bin ich mit der Frau „mit der fantastischen Stimme“ verabredet. Sie könnte mir ein Telefonbuch vorlesen und ich würde es lieben. Wir fahren mit dem Auto eine halbe Stunde zum Friedwald. Seit dem Ausbruch der Pandemie hat sie ihren Mann nicht mehr besucht. Sie hat Wanderstiefel an und einen Rucksack auf – „aber nicht mehr den Wanderrucksack – so wie früher. Ansonsten habe ich alles dabei. Auch ein Messer!“

Auf dem Weg zum Baum des Gatten, besuchen wir die Kirche, die auf dem Weg liegt. Wir sitzen und schweigen. Vor der Tür plätschert ein Brunnen, in der Ferne hört man die Schüsse eines Jägers. Durch die geöffneten Türen der Kirche weht ein lauer warmer Wind. Kostbare und innige Augenblicke.  

Auf dem Weg zum Grab machen wir Umwege, weil: „Ich will ihnen was zeigen“.

Dann zeigt sie mir einen besonderen Baum, der aussieht wie eine Giraffe. Einen Baumstumpf, in dem man sitzen könnte, wenn man wollte. Einen verwunschenen See. Ein Buschwindröschen, dass neben dem Baum, an dem ihr Mann begraben ist, blüht. Sie lehnt ihren Kopf an die Buche. Sie ist so klein und der Baum so groß.

Es ist still im Wald.

Ich umarme sie. Ich spüre ihre Trauer und höre, wie sie mit den Zähen knirscht. Die Trauer wegknirscht und ihren Rücken wieder gerade macht. „Das Leben muss weitergehen und will gelebt werden!“

Es sind heilige Momente. Wir teilen hier einen ganz besonderen Moment.

Solche Tage wie heute sind das Gold meines Arbeitslebens. Pures Leben.

Diese Frauen zeigen mir vielleicht auch einen Teil meiner Zukunft. Was wird mich tragen, wenn ich 30 Jahre älter bin? Welche Fragen werde ich haben und wie gut wird es mir gelungen sein, „gnädig“ mit mir selbst umzugehen? Werde ich Menschen um mich herum haben, die meinen Schmerz und Trauer, meinen Humor und mein Lachen aushalten und sich nicht in Belanglosigkeiten und Floskeln flüchten?

Ein ganzer Tag voll Innigkeit hin oder her: Der Alltag bleibt nicht stehen. Für ein Essen mit einer Freundin morgen braucht es noch Linsen und Kokosmilch. Das Kind zuhause hat sich Smoothies und einen Energy Drink gewünscht.  

Der Trubel im Supermarkt, das Quäken der Fahrstuhl-Musik und Werbung und die Wahl der Kokosmilch bringt mich wieder auf normal Null. „Heilig“ ist hier nichts.  

Gut so.

Zuhause schmore ich Gemüse im Ofen für mein Mittagessen am nächsten Tag. Fast verbrennt es mir, weil ich damit beschäftig bin, das Internet „leer zu lesen“: Wahl- Analysen der Bundestagswahl und Hundevideos, Instagram und Waldfotos, die veröffentlicht werden wollten. Dem Essen schadet es nicht.  Es ist dadurch superlecker und knusprig. Ähnlich wie bei Bratkartoffeln, die man ja auch immer kurz vergessen soll, damit sie besonderes rösch werden. Nachdem ich diesen Text fertig geschrieben habe, werde ich wohl noch mal „ran“ müssen:  Das „Probieren der Röstaromen des Ofengemüses“ war so sorgfältig und ausgiebig, dass ich alles auf einen Schlag aufgefuttert habe. Der Tag ist noch nicht vorbei.

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