27. September 2020 – von Juna Grossmann

Endlich wieder lange, fast 10 Stunden, geschlafen. Es war kalt in der Nacht. Kein Meer rauschte, kein wärmender Sonnenschein. Urlaub zuhause. Wenigstens ist die Migräne weg.


Nachrichten gelesen. Die TAZ schreibt in einem Artikel über das Coronavirus in Süd-Korea, dass einer der Hotspots eine „Schwulen-Bar“ war. Den Artikel habe ich nicht zu Ende gelesen. Wenn ein Autor es für ein Virus, das sich über die Luft überträgt, die sexuelle Orientierung der Clubbesucher relevant findet, war es das für mich. Die Schuhgröße ist ähnlich relevant. Schlechte Laune. Erstmal Kaffee.


Ich höre das Klackern der Tastatur nebenan. R. sitzt schon am Schreibtisch. Die Krähe landet auf dem Fensterbrett und sieht mich verwundert an. Sie war schon lange nicht mehr da. Vermutlich ist mit der Kälte und dem Regen gestern der Futternachschub auf den Straßen geringer geworden. Schreibe auf die Einkaufsliste: Erdnüsse für Konrad die Krähe.


Vertrödle den Tag mit dem Lauschen auf das Tackern der Tastatur. Ich will nicht an draußen denken. Will einen Tag unpolitisch sein. Ich weiß, dass es nicht klappen wird. Ich kenne mich.


R. rennt los zu einem Termin, Hektik. Draußen ein Hupkonzert. Hochzeit oder Demo? Ich suche bei der World Union for progressiv Judaism für einen Stream für das Kol Nidre heute Abend. Entgegen der Ankündigung ist das ziemlich schwer. Nur wenige Gemeinden in dieser Zeitzone. Aber immerhin! Ich hoffe, das ist etwas, das bleibt. Mir ist dieser Tag, sind diese Tage wichtig. Sie wirken und lassen mich intensiver nachdenken, nicht nur über mich. Und dennoch ist alles anders. Nach Jom Kippur im vergangenen Jahr ist es mir überraschend wichtig, teilzuhaben, also im wortwörtlichen Sinne dabei zu sein. Die Psychologie ist eine interessante Sache. Ich will mich nicht vertreiben lassen durch Menschenhass. Da ist wieder dieses „Jetzt erst recht!“. Und doch ist alles anders. Corona macht es mir zu gefährlich in einem Raum mit vielen Menschen zu sein. Ich staune und bin beeindruckt über die Organisation und Logistik in der Gemeinde Oranienburger Straße. Wirklich großartig, was sie dort auf die Beine stellen. Ich habe eh keine Karte gekauft. Also per Stream. Es wird seltsam werden. Und doch dürfen wir dankbar sein für das, was heute möglich ist. Ich weiß schon, dass ich mich, wie jedes Jahr, morgen wundern werde, warum alle Leute sich so normal verhalten, so wenig feierlich. Der Sonnenuntergang naht. Ich schließe alles, auch dieses Buch. Wir sehen uns wieder – übermorgen. 

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