Ich wache ohne Wecker um halb neun auf. Der Mann ist schon wach, zieht die Vorhänge auf und öffnet das Fenster. Kühle, nach feuchter Erde, Pappellaub und Lavendel riechende Luft strömt wie eine Flüssigkeit ins Zimmer. Krähen und Elstern krächzen nur ab und zu, es ist bedeckt und sehr still. Noch ein bisschen die Augen zulassen, unter der Decke bleiben.
Beim Frühstück rauschen die Nachrichten im Radio vorbei, Kämpfe zwischen Armenien und Aserbaidschan, genau das, was uns dieses Jahr noch gefehlt hat. Wir unterhalten uns über Buchprojekte, Kleinverlagsstrategien, Buchformate, bei mir im Kopf fängt es an zu rumoren. Das könnte eine Idee werden.
Nach dem Tischabräumen recherchiere ich für die Idee ganz grob am Handy, während ich mich gleichzeitig schminke. Ich habe ein sehr schlichtes, vorne geknöpftes Kleid aus schwarzem Stoff angezogen, das ich von einer Freundin, Designerin geschenkt bekommen habe, der es nicht mehr passte. Dazu eine schwarze dünne Strickjacke – „japanischer Chic“ nenne ich das für mich. Ich bin mit den Filmgöttinnen Hollywoods aufgewachsen, später wollten alle wie Sophie Marceau aussehen, auch ich, heute erscheint es attraktiv, wie eine der alterslosen japanischen Touristinnen in Berlin auszusehen. Ich bin auf mein modisches Vorbild in zehn oder zwanzig Jahren gespannt.
Der Mann ist in seinem Zimmer verschwunden und es breitet sich eine Stille in der Wohnung aus, die sich nur einstellt, wenn beide, jeder für sich, ihren virtuellen Freundeskreis besuchen. Für mich gehört seit mehr als einem halben Jahr das Ritual dazu, die neuen Covid19-Infektionszahlen online nachzuschlagen, heute sind sie, wie oft am Sonntagvormittag, noch nicht aktualisiert worden.
Der Mann und ich ziehen die Schuhe an und gehen raus, zuerst zu der Brache in der Nähe, wo demnächst ein Wohnblock gebaut werden sollte, jetzt aber hinter den Baustellengittern ein kleiner Wald aus Pappelschößlingen, Birken und Götterbäumen emporwächst. Am Neuköllner Schifffahrtskanal ist es dann kälter als gedacht. Wer uns entgegenkommt, joggt oder hat einen Hund. Die Spatzenschwärme sind wieder in die Büsche am Ufer zurückgekehrt, baden in den Pfützen auf dem Weg und werden dabei kaum gestört.
Am Wildenbruchplatz wechseln wir die Kanalseite und sitzen eine Weile auf der Holzbank, die jemand genau auf dem höchsten Punkt der Brücke aufgestellt hat und schauen auf das dunkelgrüne Wasser. Wir sind immer noch bei Büchern, bei Geschäftskonzepten und kommen daher auf die Idee zu schauen, was sich in dem neuen Laden einer Bekannten tut, überqueren den Platz und steuern die Straße an. Das kleine Geschäft sieht vernachlässigt aus, das Schaufenster ist dekoriert, aber drinnen stehen Möbel durcheinander und im Eingang vor der Ladentür liegt Müll, als wäre schon lange niemand mehr dagewesen.
Weiter in der Weserstraße sind die Sitzplätze vor den Cafés voll und man hört im Vorbeigehen wieder englisches Geplapper. Scheinbar alles wie immer, würden nicht überall so viele Einwegmasken auf dem Boden liegen.
Kurz vor zuhause kommen wir an der Wohnung eines Bekannten vorbei, den wir jahrelang nicht mehr getroffen haben. Wie meistens an dieser Stelle fangen wir an, uns über ihn zu unterhalten, ob er da wohl noch wohne, was er wohl, abgesehen vom Beruflichen, das öffentlich bekannt ist, jetzt wohl so mache – da steht er tatsächlich auf dem kleinen Platz hinter der Brücke auf Treptower Seite, raucht, geht auf und ab, wippt auf den Füßen, und wirkt, als habe er ein schlechtes Gewissen. R. spricht meinen Gedanken aus, indem er ihn fragt, ob er hier Urlaub von seiner Familie mache. „Nein, ich war nur Zigaretten holen“, sagt der Bekannte, „und ich schreibe gerade wieder ein Buch und muss deshalb auch Sonntags arbeiten.“ Wir unterhalten uns eine Weile über zweite Bücher, den unvermeidlichen Vergleich mit dem ersten Buch, der immer zu Ungunsten des zweiten ausfällt und warum wir uns nie begegnen, obwohl wir keine 500 Meter voneinander entfernt wohnen.
Zuhause kochen wir Kaffee und essen Käsekuchen vom Vortag. Ich recherchiere meiner Idee hinterher, rechne verschiedene Möglichkeiten durch und skizziere sie in meinem Notizbuch.
R. geht in sein Zimmer, ich höre es tippen. Ich lese ein paar kürzere Texte, suche nach einem guten Scan eines bestimmten anderen Textes von Balzac im Netz, lade einiges herunter und drucke anderes aus, und so vergeht der Nachmittag und Abend. Zwischendurch koche ich einen Kartoffel-Sauerkraut-Porreeauflauf nach einem Rezept aus dem Guardian, das ich zum ersten Mal ausprobiere, wir essen. Der Auflauf schmeckt großartig, mit vertrautem Geschmack wie ein Essen, mit dem man aufgewachsen ist.
Nach dem Abendessen, der Mann tippt weiter in seinem Zimmer, drifte ich mehr und mehr in den Nachrichtenstrudel ab, lese über den Zusammenschluss von Klimawandelleugnern mit Qanon, mäandere durch Twitter, wo man sich über ein Twittertreffen in Esslingen aufregt, später am Abend veröffentlicht die New York Times die Steuererklärungen des Präsidenten und ich lese den sehr ausgewalzten Artikel ungefähr bis zur Hälfte, ehe ich aufgebe. Gut und regelmäßig essen und den Wahnsinn der Welt vom Sofa aus verfolgen, so lässt sich das Leben seit Mitte März zusammenfassen und mir ist noch nicht klar, was das auf Dauer mit mir macht.
Im Bett fallen mir bei Caroline de le Motte Fouqué und ihrer gewundenen Beschreibungen der nachrevolutionären Mode die Augen zu, gegen Mitternacht schlafe ich.
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