27. September 2019 oder Zeltplatzgedanken – von Juna Grossmann

9:15

Kalt war die Nacht, kalt und klar. Die Sonne scheint. Ich träumte, dass ich umziehen muss, nach Paris. Was soll ich in einem 12. Stock in Paris, die Tür halb zugemauert? Paris? Ich? 12. Stock? Auf dem Weg dahin ein Anschlag. Alles normal. In diesen Zeiten leben wir also, dass Träume von Anschlägen bei mir keine Verwunderung hervorrufen.

Ich höre die Wellen, das Meer. Wie kann ich ohne Meer je leben? R. macht Kaffee. Der Frühstückskuchen ist bombastisch in Schokolade, wir essen zwei Tage davon.

 

Mit dem Lesen verlässt mich vielleicht doch langsam die Hektik des Alltags. Noch zwei Wochen Zeit. Vier oder fünf Bücher sind gelesen. Ich komme in den Rhythmus. Nachrichten will ich gerade nicht lesen. Sie werden es wieder nicht schaffen, Trump abzusetzen, in England zeigt man nun, dass es mit der berühmten englischen Höflichkeit nur Theater ist und hier, also in Deutschland, ist man weiter selbst besoffen von der eigenen Eitelkeit und verteilt Ordnungsrufe, wenn sich jemand sichtbar zum Antifaschismus bekennt.

 

10:00

Ringeltauben und Spatzen an der Futterstelle. Türklappen der Autobewohner. Ich sollte noch einen Kaffee trinken.

 

Gegen 11: 00 vielleicht

Strand. Die Luft hier ist nicht so klar. Das ist sie hier nie. Das Meer heute sehr weit weg, die Surfer versuchen sich wieder. Menschen gehen mit Hunden im flachen Wasser – anders als die letzten Tage, als das Meer uns lehrte, dass wir nichts sind, nichts, dass es die Macht hat, uns zu zerstören und uns nicht zu vermissen.

Nur ein Mensch ist ohne Surfbrett im Wasser. Ich selbst habe noch zuviel Sehnsucht nach Sonne, um meine Haut mit dem Ozean zu kühlen.

 

Wir haben die Bücher für heute ausgepackt. Ich finde R.s Badehose in seinem als Lesezeichen.

 

Übermorgen ist Rosch Haschana. Seit ein paar Tagen denke ich daran. Wieder hier am Meer, wie seit ein paar Jahren. Das Meer, das mir den Raum gibt, über das Jahr, das war und das, das kommen wird nachzudenken. Es war ein aufreibendes Jahr, in so vielen und zuviel des Einen, zu wenig des Anderen.

 

Jetzt erst hier am Meer fühle ich mich ein wenig wieder selbst. Mein Kopf formuliert seit zwei Tagen wieder Sätze und schmeckt Wörter.

 

Ob mich je das schlechte Gewissen verlassen wird, dass ich nicht hübsch brav Sonntag Abend in die Synagoge gehe? Ist es nicht auch gut, hier zu sein? Näher an der Schöpfung? Vielleicht ist es auch so, dass ich in diesen Jahren diese Rituale nicht brauche und vielleicht ist es auch so, dass es gut so ist, so ohne Dach und Raum. Gäbe es hier einen Minjan am Meer, so wie in Miami, es wäre anders. Draußen sein. Nah.

 

Was wird dieses Jahr bringen? Die Welt noch mehr in lautes Getöse stürzen, wo wir gerade die ruhige Besonnenheit brauchten, um eben unsere Welt, unsere Erde zu retten. Stattdessen eine Welt von Egos. Egos in einer Zeit, in der es ein zusammen viel dringlicher braucht als ein: „Du bist nichts wert, weil… Follower/Titel/Name/Bildung.“ Wir lassen die Welt gegen die Wand fahren, wir schieben sie kräftig an, mit aller Gewalt.

Ich muss plötzlich an Odysseus denken und die Sirenen. Sie sind erfolgreich in unserer Zeit. Die Menschen laufen ihnen in Strömen zu. Kein Denken, Zweifeln, Sinnen hat Raum. Die Masse sagt, ergo muss sie recht haben.

 

Das wunderbare Meer, es kommt näher. Die Wellen 3 m, zuviel für viele Surfer. Dennoch Juchzen, Freude. Ich versuche, mich darauf zu konzentrieren, zu atmen, wie ich es in der Stadt nie kann.

 

Irgendwann später Mittag

Zweiter Kaffee aus Keramik, in der mal Joghurt war. Haare entwirrt und wieder hochgesteckt. Im Urlaub immer oben.

Wir sitzen im Zelt. R. zählt Spatzen. Zwischendurch Passagen vorlesen: Er „Die Belasteten“ von Götz Aly, ich „Franziska Linkerhand“ von Brigitte Reimann.

 

Blauer Himmel, hier kein Wind. Ein paar Wolken in weiß und hellem grau. Keine Sehnsucht nach Berlin. Hundebellen, Babybrabbeln, Zeltplatzruhe. Exakt zwei Zelte gibt es hier.

 

Schnitzel, der Nachbar, samt Gattin wieder da. Der Teppich vor dem Wohnmobil wird gefegt. Der Eimer akkurat auf dem Unterteppich ausgerichtet, Eimerunterteppich. Badehose und Handtuch nicht weniger akkurat auf der Leine, ohne den Stoff einmal zu falten. Respekt. Gattin ruft den wohl gekämmten Zierhund zur Raison. Was der wohl für Schmutz bringt ins Wohnmobil? Ich habe ihn noch nie außerhalb des gefegten Teppichareals gesehen. Mich würde ein Stutzen des Felles mit Nagelschere nicht wundern. Schnitzels Kopfhaar ist im Bürstenschnitt auf Linie – mit Wasserwaage sicher. Was er wohl von Beruf war? Der Hund ist ihm wohl etwas unangenehm. Zugeständnis an die Gattin, die noch immer fegt? Er richtet den zweiten Teppich zum Asphalt aus. Bloß kein Krumen Sand! Schnitzels Sohn immer zwei Meter hinter ihm. Ergeben trotz eigener Familie, Frau, Kind und zwei Hunde. Die Frisur ist noch etwas rebellisch, oben lang, sonst raspelkurz, wie Vattern. Noch ein Zugeständnis?

 

14 Uhr

Rückzug. Das Zelt warm von der Vormittagssonne, draußen Wind, eine Ahnung des südlichen Winters. Vermutlich werden wir im Zelt misstrauisch betrachtet. Unverständnis, wie auch uns das Bewohnen von Autos unverständlich ist.

 

Des neuen Surferpärchens Tisch ziert ein Kaktus. Große Sympathie. Ihr Schimpfen auf den Begleiter zeugt von Unzufriedenheit. Etwas Sonne wird es richten. Der geduldige Blick des Freundes mach den Rest. Er kennt es wohl.

Gegenüber der neue Bulli „Roadsurfer“ in schwarz und orange, passend dazu die Schlafsäcke in Orange. Münchner auf Abwegen. Sehr nett.

Hinten die Kreuzworträtselfrau mit dem orangenem Stift. Apropos, nur ein niederländische Wohnwagen. Wäre nicht das Wetter, man könnte auch in Prerow am Strand sitzen, nagut, nicht nur das Wetter, auch die Sprache, die Natur, die Bäcker und die Supermärkte.

Vom Mann mit Bart und Foxterrier wüsste ich gern die Geschichte. Am Auto steht „I’m very Lucky“. Ich würde mich gern zu ihm und seiner Frau setzen. Wenn nur mein Französisch, Frau O. sei Dank, nicht nach zwei Jahren erstorben wäre. Sie tat ihr ganzes Werk im Vergällen der Sprache, jeden Morgen ab sieben, Keller, Raum drei.

 

Sprache. Wir lesen, wie Trump von Hinrichtungswünschen von Whistleblowern spricht. Es ist soweit, dass sich kaum empört wird. Der Pöbel ruft begeistert: „Er spricht wie wir!“ Und genau das ist das Problem. Sprache als „Kampf gegen Eliten“ und die selbsternannte Elite vornweg. Der Pöbel mit und ohne Titel, begeistert und selbsttrunken von der eigenen kleinen Wichtigkeit hinterher. Hatten wir das nicht alles so viele Mal schon? Menschen hinrichten wollen, weil sie ihrem Gewissen folgen? Man muss es sich auf der Zunge zergehen lassen! Und ich höre schon wieder dieses Überdumme „Wenn man sich nichts zuschulden kommen lässt!“ Ihr habt doch keine Ahnung! Wer definiert Schuld? Wer sagt, was richtig, was falsch ist, wenn der Anstand verloren ging? Wenn es kein Gewissen mehr gibt? Keine Demut?

Ich bin es so leid, ich habe solche Angst und immer nur will ich dagegen anschreien, anschreiben. Das alles kann doch nicht wahr sein. Ich will wieder aufwachen!

 

14:30 Uhr

Der Gang zum Klo. Je weiter weg, um so öfter muss man. Naturgesetz.

 

Schnitzel und Gattin braten auf dem ordentlich gefegten Vorzeltteppich. Ein Holzklotz liegt auf der Ecke vorn rechts. Neu. Die Ecke war zu lebendig, schlug immer um. Unterm Tischkaktus gegenüber ist die melonenbedruckte Tischdecke hochgeweht. Tischdecke. Wichtig. Ich werde es notieren und doch nie lernen, so wie das mit dem Taschentuch. Immer dabei oder eben nie. Grund für Ärger mit Lehrergenerationen und Einträgen im Hausaufgabenheft: „Juna hat wiederholt bei der Taschenkontrolle kein Taschentuch dabei.“ Irgendwann kommt die Verwarnung, dann Tadel? Jetzt also auch kein Tischtuch. Der Man sorgt fürs Taschentuch und kommentiert meinen Kontrollgang ums Zelt. Alles noch straff. Die nächste Sturmnacht wirst Du jetzt Lachender dankbar sein. Ich kämpfe noch immer gegen die schweren undichten Armeezelte meiner Kindheitszeltlagerzeiten: Bett drei Etagen, 54 cm breit (nachgemessen). Oben glühend heiß oder tropfnass. Hier kann ich kein Mittelbett nah am Mittelpfahl aussuchen. Und doch, nach Jahren mit diesem so anderen Zelt hier sollte ich es besser wissen. Hier fällt in der Nacht kein Eckpfahl um. Aber was drin ist, ist drin. Lieber auf Nummer sicher mit stetigem Vorsichtsblick zu den Nähten. Jetzt hab doch mal Vertrauen, Juna! Vertrauen?

 

Meine Güte, kann mal viel schreibend denken, hat man Stift und Papier und hockt nicht im dunklen kalten Büro, das ab jetzt acht Monate kein Sonnenlicht kennt, dafür alle paar Minuten jemanden, der irgendwas will, was er auch selbst beantworten kann. Ich muss was ändern.

 

17:30 Uhr

Sonne. Nebenan versucht man, den Kater anzulocken. Ich muss etwas anderes lesen. Der Kopf schwirrt und sehnt sich nach platter Entspannung.

Ein Kind brabbelt vor sich hin. Der Abwasch muss noch gemacht werden. Waschtag in deutschen Interimsbehausungen. Ich bin nicht blütenweiß und auf Kante. Karierte Bettwäsche mochte ich noch nie.

 

20 Uhr

Sind im Zelt. Habe die Gespräche nebenan getwittert. Es war zu schön. R. und ich lachen im Zelt wie lange nicht. Dieses „ich mach mir gleich in die Hosen“-Lachen. Es war ein schöner Tag mit erstaunlich vielen Gedanken. Vielleicht sollte ich mehr dieser Art des Schreibens wagen? Ich hadere mit meinem Toilettengang. Ob ich das Bett einigermaßen sandfrei erhalte? Erzählt mir nichts von Prinzessin auf der Erbse! Hinter uns macht man sich bettfein, Türenklappen. Werde schauen, ob der Kaktus nachts draußen bleiben muss.

 

21 Uhr

Die Autos auf unserem Gang zappenduster. Der Tag endet ohne Spektakel, dafür mit vielen, sehr vielen beschriebenen Seiten. Ob ich das durchhalte, auch im nächsten Jahr?

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