27. September 2019 – von @nahtzugabe

Mein 27. September beginnt mitten in der Nacht, als ich kurz hochschrecke und im Kopf den Inhalt des gepackten Koffers durchgehe. Als einige Stunden später der Wecker klingelt, ist der Mann sofort wach und sehr munter und erzählt mir seinen noch frischen Traum, in dem er mit Isländern Essen ging.
Wir öffnen das Fenster und lassen die feuchte, erdige Luft herein, liegen noch eine Weile unter der Decke und schauen kurzsichtig in die Bäume.
Ein Spatzenschwarm hat sich in der Nähe niedergelassen und tschilpt unaufhörlich, schweigt dann auf einmal kurz, man hört nur das leise Hintergrundrauschen des Großstadtverkehrs und den Wind in den Blättern, tschilpt dann weiter. Als R. unter die Dusche geht, versuche ich, noch 5 Minuten zu dösen.
R. zieht sich an, ich gehe ins Bad. Das vor 24 Stunden gewaschene Kleid ist noch nicht trocken, es muss in einer Tüte in den Koffer. Unter der Dusche überlege ich mir, vorsichtshalber noch einen Rock und eine Bluse einzupacken. Der Koffer ist klein, aber viel zu schwer, voller Bücher, Stoffreste und Garn für die Workshops am Wochenende, und ich spiele im Kopf verschiedene Möglichkeiten durch, das alles ohne Auto an den Festivalort zu bekommen, während meine Sachen zum Übernachten im Hotel bleiben müssen.
Inzwischen deckt R. den Tisch, mahlt Kaffee und kommentiert die Nachrichten im Radio. Ist Trumps Telefonat mit dem ukrainischen Präsidenten „umstritten“? – Ja, wenn man anerkennt, dass die Meinungen in der amerikanischen Politik dazu zwischen “ ist doch nicht so schlimm“ und „Hochverrat“ schwanken.
Wir unterhalten uns und blättern die Zeitung durch, von beidem bleibt mir vor Schläfrigkeit nicht viel im Gedächtnis, nur die Besprechung des neuen Buchs von Reyhan Sahin lese ich genauer.
R. bricht zur Arbeit auf, ich verspreche, mich zu melden, wenn ich ankomme, räume das Frühstücksgeschirr weg, mache mich fertig, Zähneputzen, Haare trocknen, schminken.
Lady Bitch Ray sein und zugleich als Linguistin ernst genommen werden, geht mir nicht aus dem Kopf. Ich habe meine Näherei und mehr noch das Nähblog jahrelang verheimlicht, um meine akademische Karriere nicht zu gefährden, naja, mit akademischer Karriere war dann ja nicht viel, also hätte ich auch getrost offensiv bloggen können.
Schon in Schuhen und Mantel schaue ich noch schnell nach den E-Mails und nach Buchverkaufszahlen, dann gehe ich im leichten Regen zum Bus. Der Bus fährt über die Elsenbrücke und zur Linken bietet sich in Richtung Oberbaum einer der schönsten Blicke auf das Berliner Zentrum. Der Fernsehturm ist heute nur ein Turmstummel, die Kugel verschwindet im Regendunst.
Die Schläfrigkeit habe ich wie einen Kokon mitgenommen, in der S- Bahn holt mich ein Musikerduo heraus, der Geigenspieler, ein älterer Mann mit blondierte, schulterlanger Künstlermähne hat ein fürchterliches, billiges Instrument, spielt aber virtuos. Was der aus einer guten Geige herausholen könnte. Dann kommen Kontrolleure.
Am Gesundbrunnen bin ich viel zu früh, aber der Zug kommt auch früher, in sechseinhalb Stunden könnte man jetzt in Amsterdam sein. Ich fahre nur bis Hannover.
Im Bahn-Wlan beantworte ich einige Kommentare bei Instagram, poste ein Bild, da weiß ich auch nicht genau, wo Freizeit aufhört und Arbeit anfängt, aber vielleicht ist das auch nicht so wichtig. Das WLAN ist weg, sobald sich der Zug in Bewegung setzt.
Im fast leeren Waggon ist eine Atmosphäre wie in einer Bibliothek, die meisten Mitreisenden schauen Filme, ich stricke, ein neues Projekt mit einer englischen Anleitung, in der ich mich noch nicht zurechtfinde, und so zähle ich und schaue nur kurz auf, als wir die Elbe überqueren. Stendal, Wolfsburg, tief hängende Regenwolken, knit to marker, slip marker, purl one, knit to last 3 stitches, slip 3 with yarn in front.

In Hannover ist es sonnig, auf dem Bahnhofsvorplatz stehen Marktstände, ein kleiner, aber lauter Demonstrationszug zieht vorbei, Hannover ist wach, ich bin wach. Ins Hotelzimmer komme ich erst in einer Stunde, aber ich werde das Gepäck los und gegenüber ist ein großer Stoff- und Nähmaschinenladen. Nach dem Hindurchbummeln sind sieben Minuten vergangen.
Ich gehe zweimal um den Block und lande im Cafe einer Bäckereikette, ein Wohnzimmer für dauerhaft oder temporär Heimatlose. Zwei ältere Männer diskutieren in einer südslawischen Sprache über die Freiheit, zwei Männer mit Rucksäcken schlagen wie ich die Zeit tot, in einer Ecke sitzt eine alte Frau mit lauter großen Taschen, die sie wie eine Barriere um sich herum aufgebaut hat und blättert in Papieren. Ob sie ein Zuhause hat, ist dies ihr Zuhause?
Ich fange an, in der Notizbuchapp des Handys diesen Text zu schreiben, eine Premiere und eine interessante Art des Schreibens, immer nur einen kleinen Ausschnitt zu sehen, keinen Überblick über den Text zu haben.

Nach einer Stunde strickend auf dem Bett im Hotelzimmer, das sehr groß ist, mit hoher Decke und auf ein Parkhaus blickt, muss ich mich zum Aufbruch zwingen. Ich gehe zum Geldautomaten, und fahre mit der Stadtbahn stadtauswärts, dabei zweimal durch einen Wald, so dass es scheint, als wäre die Stadt schon zuende. Hannover-Kirchhellen ist aber eine Art Villenkolonie oder bessere Einfamilienhausgegend. Ich suche das Textilmuseum und bin erstaunt, als ich einen Hochbunker mit zwei aufgesetzten Stockwerken finde, der die anderen Häuser überragt und dessen Hässlichkeit durch einen angebauten Wintergarten und Efeubewuchs nur wenig gemildert wird.

Das Museum wird ehrenamtlich von Frauen zwischen 60 und 70 betreut, die zwei Besucherinnen, die gerade ihre Runde beendet haben, sind auch in diesem Alter. Ich erfahre, dass die Gründerin, eine Hannoveraner Modedesignerin, zur Zeit im Urlaub ist, aber „die gute Seele des Hauses“, Schneiderin des Modeateliers und rechte Hand, die Museumsführungen übernommen hat.

Die kleine Frau in einem Trägerkleid, das aus verschiedenen Wollstoffen zusammengesetzt ist, ist erschöpft, denn das ist nun die dritte Führung an diesem Tag – sonst kommen selten so viele Besucherinnen, auch wenn man das Eintrittsgeld als Privatmuseum wirklich gut gebrauchen könne. Über die ausgestellten Stoffe und Kleider kommen wir schnell ins Gespräch. In drei großen, sehr hohen Räumen im ersten Stock sind Textilien aus aller Herren Länder an den Wänden aufgehängt, über Stangen, an Puppen drapiert, wenige Stücke in Vitrinen hinter Glas, Altes und Neues durcheinander, mit Begeisterung gesammelt, aber wenig systematisiert.

Meine Führerin sprudelt etwas atemlos heraus, was woher stammt, welche Materialien, welche Herstellungstechniken zu sehen sind, zeigt Details, beantwortet meine Fragen. Geht dann voraus in eine verborgene Ecke, um im nächsten Raum das Licht anzuschalten und in dem, den wir verlassen haben, das Licht auszuschalten. Mehrmals zucke ich zusammen, weil sie die Stoffe anfasst und auch mich anfassen lässt, und so befühle ich die weiße, feste Seide eines Brautkleides, das nach dem Zweiten Weltkrieg aus einem Fallschirm der Alliierten geschneidert wurde, einen handbestickten Kaschmirschal, den teuersten Mantelstoff der Welt aus der Wolle des Vikunas, Wollstoff mit echten eingewebten Goldfäden, Stoff aus Milcheiweiß und sehe Teile des Raumanzugs von Siegmund Jähn, unzählige Saris, Kimonos, chinesische Mäntel, philippinische Blusen aus Ananasseide, Couturestoffe von Valentino und Versace. Obwohl das Museum nicht groß erscheint und wir nur etwa ein Drittel der Stücke näher in Augenschein nehmen, sind eineinhalb Stunden vergangen, als wir wieder im Foyer ankommen.
Wir plaudern noch etwas über die Schwierigkeiten, so ein Museum zu erhalten, ich bekomme eine Einschätzung der Kandidatinnen und Kandidaten der bevorstehenden Bürgermeisterwahl, hinterlasse meine Karte und verabschiede mich.

Zurück am Bahnhof kaufe ich Sushi, fritierte Garnele mit Avocado und Thunfisch, zum Mitnehmen bei einem Restaurant im Untergeschoss des Bahnhofs, ich kann mich nicht überwinden, mich in dem zugigen Durchgang hinzusetzen. Die Bedienung packt die Plastikbox zusätzlich in eine Plastiktüte, ehe ich etwas sagen kann, und ich denke, das ist jetzt auch egal. Das Geld nimmt sie japanisch an, mit beiden Händen, ich will nur schnell ins Hotelzimmer.
Das Sushi ist dann sehr gut, besser als erwartet, genauso wie der ganze Tag.

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