Der Tag beginnt mit Blut. Verspätetem Blut. Zehn Tage, wirft die App mit ihrem hellroten Mandalasymbol meinem Körper vor. Zurück im Schlafzimmer schiebe ich mich sacht zwischen den blickdichten Vorhängen hindurch zur Balkontür. Nur einen kurzen Moment draußen. Es ist angenehm kühl. Die Straße regennass. Dunkler als gewöhnlich, weil der Himmel wolkenverhangen ist. Ich mag die Rosanuance dieses Dämmerlichtes. Die Fenster gegenüber sind alle bis auf eines finster. Wohnen hier keine Schulkinder? Der Gedanke unterbricht meine Morgenmelancholie. Es ist höchste Zeit, mit den Handgriffen zu beginnen, die es braucht, damit hier alle rechtzeitig gewaschen, angezogen und satt aus dem Haus kommen.
Wasser aufsetzen, Kaffeebohnen malen, drei Teller, zwei Tassen, zwei Gläser, einmal Marmelade, einmal Honig, Butter nicht vergessen, Salatblätter für die Meerschweinchen waschen, Jausenbox und Wasserflasche befüllen, Wackelzahn begutachten, das Mitteilungsheft kontrollieren, Haare entwirren, frisieren, flechten. Dazwischen mahnende, schimpfende, ungeduldige Worte. Ich scheitere dabei, ein für heute Vormittag angekündigtes Paket online umzuleiten. Da springen schon die Briochescheiben vorwurfsvoll aus dem Toaster. Sie duften nach Wochenende. Noch ein paar Stunden. Bei Tisch herrscht vorsichtige Harmonie, die dem gestrigen Streit geschuldet ist. Ich versuche, meinen Traum zu erzählen. In Worte formuliert, fällt die Erinnerung in sich zusammen. Irgendwas mit Dystopie. Irgendwas mit Repressionen. Irgendwas mit Flucht. Wir reden über die Elefantenrunde im Fernsehen, die wir nicht gesehen haben, über einen seltenen Gast am Spielplatz und unser aller Mittagessen am Vortag. Habt einen guten Freitag, wir sehen uns auf der Demo, rufe ich schließlich ins Vorhaus. In der Dusche steht die Zeit still. Im Badezimmer höre ich dem Haus durch das Fenster in den Lichthof beim Aufwachen zu. Kindergezänk. Jemand pfeift. Eine Klospülung. Ein Handywecker klingelt einsam vor sich hin. Ich wische über das angeschlagene Glas der Duschwand. Schon fünf vor acht. In der Dusche steht die Zeit natürlich nicht still. Ich bin spät dran. Wie sooft, wenn ich das Kind nicht bringe. Am Fahrrad verdränge ich den aufkeimenden Schmerz in den Schläfen. Die Abfahrt hinunter zum Donaukanalufer ist der bescheidene Höhepunkt meines Arbeitsweges. Wie jeden Tag widerstehe ich der Versuchung, dabei die Augen zu schließen. Ich habe City of Angels gesehen. Für faktenbasierte Verkehrspolitik, Stop Sexism, Wake up, FCK NZI. Don‘t worry, baby! Der Radweg ist gesäumt von aufgesprayten Botschaften. Nicht das erste Mal stolpere ich über das I in FCK NZI. Die Wellen des Katamarans auf dem Weg nach Bratislava schlagen gegen die Kaimauern und ich rieche Salzwasser, wo keines ist.
Die Gänge in der Redaktion sind noch fast leer. Während der Computer hochfährt, hole ich mir ein Glas Wasser und gieße die Bananenpflanzen. Ich lese meinen Aufmachertext von gestern und fülle den Infokasten dazu. Telefoniere mit einem Interviewpartner, der seine Zitate autorisieren will. Durchforste die APA-Meldungen. In der Schul-WhatsApp-Gruppe werden Abholzeiten diskutiert, ich schalte das Handy auf stumm. Eine Kollegin schickt mir einen Text zum Gegenlesen. Nun doch eine Migränetablette. Das Zimmer hat sich mittlerweile gefüllt. Wir besprechen, was noch getan werden muss. Freitag ist Endproduktionstag in unserem Ressort. Wochenrhythmus trotz Tageszeitung. Schon ist es Zeit, die Seiten für morgen auszudrucken und aufzuhängen. Jemand hat dem fotografierten Erwin Wurm, der recht unsympathisch über dem Drucker thront, aus einem neongelben Post-It ein Krönchen aufgesetzt. Wie passend, denke ich. Die pinken Hasenohren zuletzt mochte ich trotzdem mehr. Ein Erinnerungsmail. Ich muss in den dritten Stock. Seit Wochen ignoriere ich die Fototermine für die Vorlagen der neuen Autor_innenbilder online. Last Call. Offene Haare? Zusammengebunden? Egal, winkt der Fotograf ab. Die gemalten Bilder hätten mit den Abgebildeten eh wenig zu tun. Seufzen. Der Vormittag rast dahin. Mit dem Zwölferläuten steckt ein Kollege aus der Außenpolitik seinen Kopf zur Tür herein, er holt die Kolumnistin, die mir gegenüber sitzt, zum Mittagessen ab. Beschwert sich, dass sie ihn warten lässt. Immer glauben die Männer, man muss sie um alles bitten, raunt sie uns im Gehen launig zu. Die andere Kollegin legt mir derweil eine ausgedruckte Speisekarte auf dem Tisch. Griechisch. Ich wehre ab. Heute nicht. Lieber hole ich mir im Supermarkt ums Eck frischen Orangensaft und ein Käsebrot. An der Kassa vor mir zahlt eine mittelalte Frau im lila Schürzenkleid mit geblümtem Kopftuch eine Flasche Absolut Vodka und fünf Red Bull. Ich stelle mir vor, wie sie heute Abend ihre Freundinnen zum Kartenspiel empfängt. Oder, besser, komme nicht umhin, es mir für sie zu wünschen. Um mich dann sofort über mein vorurteilsbeladenes von Oben-Herab zu ärgern. Zurück am Schreibtisch blättere ich während des Essens durch Zeitungen und Kopien der Wissenschaftsberichterstattung des gestrigen Tages. Lustlos, heute. Mir fällt ein, dass ich schon längst in Rainald Goetz‘ „Abfall für alle“ hineinlesen wollte, von dem mir erst neulich jemand geschrieben hat. Eine Google-Suche bringt mich zur Leseprobe vom Verlag. Ich bin erstaunt über die Form, hatte mit ausformulierteren Sätzen gerechnet. Stattdessen, Eintauchen in die vermeintlich (?) ungefilterten Gedanken eines anderen.
WAS
sind das für Tage, die –
was ist das für ein Land, in dem –
wer bin ich, um hier zu –
VORSICHT
Literatur
alles aussteigen bitte
Schön. Aber wie kann es schon vier Jahre her sein, dass ich seine Büchnerpreis-Rede gehört habe? Ich verlagere die Mittagspausengedanken auf später. Statt der Vergangenheit nachzuhängen, plane ich mit der Kollegin die nächste Woche. Wir schieben bereits geplante und vergebene Artikel durchs Blatt und ergänzen sie um eigene Vorhaben. Ein paar Löcher für Aktuelles. Die Kolumnistin ist mittlerweile auch retour und bietet Lindt-Pralinen feil. Noch einmal zurück zu den Seiten für morgen. Da noch eine Kurzmeldung, dort noch einen Titel ändern. Passt das Bild? Alle Fotonachweise da? Endlich. Freigabe? Freigabe. Ich verabschiede mich früher als sonst. Auf der Fahrt zum Donaukanal begegnet mir ein großer, hagerer alter Mann in hellblauer Funktionskleidung mit weißem Haar und zwei Wanderstöcken an derselben Stelle wie heute Morgen. Kann das sein? Was hat er in den Stunden dazwischen gemacht? Es ist warm geworden. Ich stoppe auf der Aspernbrücke und stopfe meine Jacke in den Rucksack. In diesem Moment meldet sich eine Freundin. Wir wollen gemeinsam zur Klimademo. Oder es zumindest zur Abschlusskundgebung schaffen. Sie muss noch den Wochenendeinkauf, ich das Fahrrad heimbringen. In einer halben Stunde beim Schottenring? Äh, Schottentor. Schottentor? Was jetzt? Wir lachen. Wie viele Jahre muss man in Wien wohnen, um die beiden U-Bahn-Stationen nicht mehr zu verwechseln? Das eine sagen, das andere meinen. Und umgekehrt. So hätte ich vor zehn Jahren fast den Makler meiner ersten Wohnung hier verpasst. Was hat das Schottentor mit Schotten und der Schwedenplatz mit Schweden zu tun, höre ich das Kind fragen. Bei Gelegenheit muss ich das googeln, nehme ich mir vor.
Wir wollen die Schulkinder und ihre Väter vor dem Äußeren Burgtor abpassen und den Demozug zumindest auf den letzten Metern zum Heldenplatz begleiten. Abseits des Weges schreit uns ein Wahlkämpfer mit dem Megaphon nieder. Für ein lebenswertes Österreich, es wird knapp, wählt Peter Pilz! Pilz gegen Kurz! Der ohrenbetäubende Lärm täuscht über den praktisch leeren Wahlstand hinweg. Wir haben nur sarkastisch-ätzende Bemerkungen für die Szenerie übrig. Die letzten Monate haben wir gefühlt alle möglichen Diskussionen über österreichische Politik durchgespielt. Mein Gesprächsreservoir ist jedenfalls leer. Wir sind uns ohnehin einig – zumindest über das Ist. Spekulationen machen mich müde. Heute ist dasselbe Wetter wie im Mai nach Ibiza, stellt die Freundin fest. Wir sind froh, als der Pilz-Schreier von den Demo-Parolen übertönt wird. Capitalism kills our Future, steht auf dem riesigen Transparent, das Aktivistinnen und Aktivisten gerade über dem vergoldeten Schriftzug – Franciscus I. Imperator Austriae – am Äußeren Burgtor entrollen. Sie balancieren für meinen Geschmack zu nah am Abgrund. Ziehen sich immer wieder den Schal vors Gesicht. Die Menge johlt. Endlich hängt der störrische und vom Wind traktierte Banner an der richtigen Position. Die jungen Leute am Tor zum Heldenplatz strecken die Fäuste in die Luft. Ich atme auf. Applaus. Wir sind gleich bei euch, schreibt der Freund im SMS. Ich freue mich, schon wenige Minuten später das Kind an der Hand zu halten. Es pfeift enthusiastisch in die rote Trillerpfeife. Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Zukunft klaut, schreit seine Freundin. Wir lassen uns mit den anderen Demonstrierenden, die nicht zur Kundgebungsbühne streben, auf der Wiese bei den provisorischen Parlamentscontainern nieder. Während der Reden spiele ich mit den Kindern Wortspiele. Nudeln. Nüsse. Eier. Rindfleisch. Honig. Gurke. Essiggurkerl. Lauch. Später schnorren sie sich Fahnen mit dem Slogan „Wir sind jung und brauchen die Welt“, die sie über unseren Köpfen schwenken. Vor der Reiterstatue locken Seifenblasen und halten zwei, drei Dutzend Kinder bei Laune. Irgendwann haben wir genug. Oder die Kinder.
Wir wollen zum Spielplatz im Rathauspark. Den Weg flankieren Wahlplakate. Sie sind völlig beschmiert. „Kurz = Jesus = jüdische“ steht auf den ÖVP-Plakaten. Dazu zwei gemalte Judensterne. „Bla bla bla“ hat jemand darüber geschrieben. „Antisemitismus!“ ziert die Stirn von Sebastian Kurz. Pamela Rendi-Wagner hat ein Post-It auf den Lippen. Darauf ein freundlicher handgeschriebener Aufruf, sie zu wählen. Das Kind fragt, was Hurensohn heißt – der Schriftzug prangt Werner Kogler im Gesicht –, und erklärt der Schulfreundin ein FPÖ-Plakat: Das sind die Oberbösen. Es hat die nickenden Lacher der Umstehenden auf seiner Seite. Ich ziehe die Kinder weiter. Solche Situationen sind mir unangenehm. Wie unterschiedlich die Normalität unserer Kindheiten ist, denke ich. Meine am Land, am Dorf. So ganz ohne Politik und Klimakrise und Demos und und und. Am Spielplatz stößt eine weitere Freundin dazu. Wir belegen die Bänke. Reden von Filmen. Von unseren Abendplänen. Von einem Vortrag, den eine diese Woche besucht hat. Dann erzählt sie, dass ihre Mutter meine Artikel aus der Zeitung ausschneidet und ihr bei jedem Besuch ein Päckchen damit in die Hand drückt. Die Geste rührt mich.
Mittlerweile dämmert es, mich fröstelt. Ich schlüpfe in die Jacke. Die anderen nicken. Es wird Zeit, sagt einer. Die Kinder rebellieren kurz, aber sie sind zu müde, um unseren Worten des Aufbruchs etwas entgegen zu halten. Schließlich trennt sich die Gruppe. Die einen nach Hause, die anderen ins Kino. Wir wollen noch etwas essen gehen. In der kleinen Tapas-Bar bricht die Müdigkeit über alle. Trotzdem bleiben wir auf ein zweites Getränk. Das Kind zeichnet erst meinen Notizblock mit Flamingos voll und spielt hernach Autorennen am Handy. Wir Erwachsenen erzählen uns Urlaubsessensanekdoten und rätseln, wie die Aktivistinnen und Aktivisten heute wohl aufs Äußere Burgtor gekommen sind. Ob sie verhaftet wurden? Zum Abschluss gibt es Crema Catalana. Auf dem Weg zur U-Bahn läuft uns eine kleine Maus über den Weg, deren eifriges Hin-und-Her-Getrippel wir noch eine Weile beobachten. Niemanden drängt es heim. Irgendwann fällt die Tür dann doch hinter dem Tag ins Schloss. Beim Zähneputzen sammeln wir Erinnerungen an besonders schöne und lustige Demosprüche. Dann stecke ich das Kind ins Bett. Müde hält es mir noch seinen rechten Zeigefinger hin. Ein Splitter vom Stecken der „Wir sind jung und brauchen die Welt“-Fahne. Blutet es, schlafmurmelt das Kind fragend. Nein, nein, wir holen ihn morgen heraus, ok? Ok.
Kommentar verfassen