6:17 Uhr: Der Tag beginnt mit Luxus. Nach mehr als einem Jahrzehnt mit sehr viel Verzicht und Sparsamkeit bringe ich mir langsam bei, mir Dinge zu gönnen, und die erste teure, etwas unnötige Anschaffung war ein Tageslichtwecker. An sich mag ich Herbst, aber das Aufstehen, wenn es noch duster ist, fällt mir immer schwer. Gedankenverloren höre ich dem Radio zu, es wird von Straßensperrungen gewarnt, in Vorbereitung für den Staatsbesuch von Erdogan morgen. Ich raffe mich dann doch auf und stehe auf, hole die aufgetauten Beeren aus dem Kühlschrank und gehe ins Bad, um die Locken zu entwuseln und mich für den Tag bereit zu machen. So langsam habe ich das mit dem Ploppen und Crunchen und anderen Tricks und Tipps raus. Nach dem ich mich mit dem liebgewonnenen Mopp zufrieden gebe, entscheide ich mich vor dem Kleiderschrank für eine schwarze Hose, weißes T-Shirt und einem beigen Strickjacken-Blazer. Gefrühstückt werden Porridge und die Beeren und ich trödel vor mich hin und lese noch ein bisschen.
8:15 Uhr: Beim Verlassen der Wohnung mache ich mir noch eine mentale Notiz, dass ich dieses Wochenende dringend aufräumen muss bevor K. mich besuchen kommt. Nice for what von Drake und Janelle Monae bringen mich in der S-Bahn schon mal in die kämpferische Stimmung, die ich im Büro brauchen werde. Der Bus ist natürlich mal wieder verspätet und als die Linie endlich kommt, sind es gleich drei Busse auf einmal. Ich treffe mal wieder den netten, dank mehreren Kleinkindern dauermüden Kollegen, der auf dem gleichen Stockwerk sitzt. Wie immer grüßen wir uns erfreut und stellen uns in zufriedener Schweigsamkeit nebeneinander. Erst auf den letzten Metern ins Büro fangen wir dann meist doch eine kurze Unterhaltung an.
9:15 Uhr: Im Büro herrscht geschäftiges Gewusel. Meine Chefin ist im wohlverdienten Urlaub und hat mich als inoffizielle Stellvertreterin benannt. Ich verbringe schon die ganze Woche damit, die Zankereien zwischen X. und Z. zu schlichten und dabei nicht selbst X. den Hals umzudrehen. Den halben Tag verbringe ich damit, E-Mails zu beantworten, X. zu bitten, nicht ständig so laut zu telefonieren, wir sind schließlich 12 Leute im Raum, mit Telefonkonferenzen und Excelspielereien.
Zwischendurch eine Nachricht von T., ob ich jetzt böse auf sie sei? Wir hatten uns Mittwochnacht in eine hitzige WhatsApp-Debatte verstrickt, in der es um J.K. Rowling, Johnny Depp, Opfer und häusliche Gewalt ging, und dass es ja laut ihr auch öfter manipulative Frauen gäbe, die solche Dinge nur behaupten, um Profit draus zu schlagen und den Mann schlecht da stehen zu lassen. Ich verstehe ihren Gedankenansatz dabei immer noch nicht, auch wenn mir bewusst ist, dass es solche Situationen gibt. Ich weiß aber nicht, was ich ihr dazu noch sagen soll. Mir hängt immer noch in den Knochen, dass ich keine Worte dafür fand, als sie mir neulich erklärte, dass sie Feminismus für Unsinn hält. Ich antworte ihr trotzdem mit nein und sage aber, dass ich nicht weiß, was ich dazu noch sagen soll. Wir wechseln das Thema zu anstehenden Elternabenden und Alltag.
12:30 Uhr: In der Kantine gibt zum 2. Mal diesen Monat tatsächlich eine warme Speise, die ich essen kann, und die Damen an der Kasse freuen sich mit mir über die Kartoffelsuppe mit Wienern. Heimlich holen sie mir noch einen Wackelpudding aus der Kühlung, da zu dem Menü ja schließlich noch eine Nachspeise gehöre. Die Suppe ist nahrhaft und lecker und ich freue mich, dass die 2 Damen, die eigentlich als recht streng bekannt sind, so nett zu mir sind.
15:30 Uhr: Nachmittags nutze ich eine angesetzte Besprechung, um mit Z. unter vier Augen über X. zu sprechen. Wir sind uns beide einig, dass „Teamarbeit“ mit ihm leider absolut nicht funktioniert und jede berufliche Unterhaltung mit ihm nur damit endet, dass er versucht, uns zu belehren, wie wir unsere Arbeit zu machen haben. Wir sind allerdings beide noch unschlüssig, was eine_r von uns oder beide zusammen dagegen tun können. Meine Belastungsgrenze für X.s Alphamännchengehabe ist auf alle Fälle erreicht und ich stecke Grenzen ohne Ende und verteidige meine Arbeit wiederholt laut und deutlich. Unterbrochen wird der Nachmittag von 2 Kollegen auf dem Stockwerk, die Geburtstag hatten und zu Kaffee und Kuchen einladen.
18:30 Uhr: Gerade beim Aufbrechen in den Feierabend schreibt mich der leicht nervige Kollege aus Spanien an und gemeinsam finden wir einen Fehler in der Arbeit von X. Ich verspreche ihm, dass er bis Freitagvormittag eine korrigierte Version erhält, und mache mich auf zu Chorprobe. Der freundliche Werkstudent wartet mit mir vergebens auf den Bus, und gemeinsam entschließen wir uns, zur U-Bahn zu laufen. Unterwegs erzählt er mir von seinem Alltag und wie das wohl bald wird, wenn er mit der Uni fertig ist und eigentlich zurück in die Heimat will, in der seine Freundin lebt. An der U-Bahn verabschieden wir uns und ich freue mich schon darauf, wenn er das nächste Mal wieder im Büro ist.
Auf dem Weg zum neuen Chor fällt mir ein, dass ich meine Wasserflasche vergessen habe, kaufe mir Ersatz und gönne mir dazu noch einen Kokosriegel.
20:00 Uhr: Die Chorprobe verläuft nicht so spaßig wie geplant. Ich bin zu angespannt vom Tag, treffe dadurch die Töne nicht und komme mit dem Oktaven wechselnden Menschen in meiner Stimme nicht klar. Das ständige Wechseln bringt mich bei den neuen Liedern ziemlich durcheinander und ich bin verunsichert. Der Chorleiter verspricht, mir meine Stimmlage als Audiodatei zu schicken, damit ich es mit einer App üben kann.
22:00 Uhr: Auf dem Heimweg ruft mich meine Schwester noch an, wir sprechen darüber, wie besorgniserregend die Stimmung zurzeit überall ist. Wir überprüfen beide regelmäßig in unseren Städten, wo AfD-Demos sind, um sicher gehen zu können, die Gegenden zu meiden. Und sie gesteht mir, dass sie langsam versteht, warum damals in der Nazizeit so viele Juden noch im Land waren und nicht schon früher geflohen/gegangen sind. Man hofft einfach, dass die Menschen um einen herum einfach nicht so dumm sein können und so etwas Falsches mitmachen. Wir sind uns einig, dass wir hoffen, dass wir diesen Zeitpunkt gerade nicht verpassen und dass wir uns doch mal um unsere 2. Staatsbürgerschaft kümmern sollten. Sicher ist sicher.
23:00 Uhr: Beim Zubettgehen fällt mir noch ein, dass ja heute der 27. September ist und ich eigentlich mitschreiben wollte. Ich fange an zu schreiben und entdecke dabei zufällig mein Lieblingslied aus den Klavierzeiten: St. James Infirmary. Irgendwann gewinnt die Müdigkeit und morgen ist ja auch noch ein Tag.
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