27. September 2017 – von M.O.

Ich habe etwas Wichtiges geträumt, das ist klar, ich kann mich aber nicht daran erinnern. Um in den Traum zurückzukommen, bleibe ich eine halbe Stunde liegen, schlafe kurz wieder ein, schaffe es aber nicht, mich in den Traum zurückzubegeben. Ich schäle mich aus dem Bett, lasse das Kissen zusammengeknautscht liegen wie es ist, lasse die Vorhänge geschlossen, wie ich es sonst nicht mache. Im Schlafanzug mache ich Frühstück, decke den Tisch, heize den Ofen vor, mache Kaffee. Während die Brötchen 10 Minuten im Ofen liegen, lese ich Mrs Dalloway. „Er hielt Blumen in der Hand – Rosen, rote und weiße Rosen. (Aber er konnte sich nicht überwinden, ihr zu sagen, daß er sie liebe; nicht so wortreich.)“ Frühstück und dabei ArteJournal vom gestrigen Abend auf dem Smartphone. Thomas Ostermeier dreht einen Dokumentarfilm für die Schaubühne? Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ auf der Bühne / Leinwand. Linke Stammwähler, die nach rechts wandern. Für ihre Generation sei es nicht mehr so selbstverständlich, engagiert zu sein, sagt Nina Hoss. H. ruft an und unterbricht den Bericht: „Hab ich dich geweckt?“ Nein. Wir verabreden uns für 16 Uhr am Hindenburgplatz an der Post. Großartiger Treffpunkt: Hindenburgplatz. Der Name macht Laune. Ich sehe den Bericht zu Ende. Am Abend werde ich einen br-Beitrag hören, der etwas mehr über das Stück verrät: Katrin (gespielt von Nina Hoss) wird mit der Dramaturgie des Stücks und dem Text Didiers selbst nicht mehr zufrieden sein. Der Premiere, dem Wahlabend des 24.9., bei dem die afd in den Bundestag eingezogen ist, schloss sich eine Diskussion an, bei der die Linke in diesem Stile selbstkritisch diskutierte.

Ich räume den Tisch ab und klappe den Laptop auf. Ich sehe nach meinen Mails, lese, weil der Computer streikt, am Tisch zwischendurch weiter Virginia Woolf: „Ich gehe nie auf Gesellschaften“, sagte Miss Kilman, nur um Elizabeth am Gehen zu hindern. „Die Leute laden mich nicht zu Gesellschaften ein“ – und sie wußte, als sie das sagte, daß es dieser Egoismus war, der sie zugrunderichtete; Mr Whittaker hatte sie gewarnt; aber sie konnte nichts dagegen tun.“ Die Mail von der R. schiebe ich in den dafür vorgesehenen Ordner, die Mail von M. verwundert mich, von S.s Mail wusste ich schon und antworte rasch. Ich logge mich ins Online-Banking ein. Dass das Geld von T. da ist, freut mich und ich mache eine wichtige Überweisung. Sende T. Dankesnachricht. Suche nach einer Fahrt nach B. zu M. Buche eine Fahrt am 30.09. um 13 Uhr. Auf der Seite von blablacar heißt es, das Geld werde nicht abgebucht, wenn der Fahrer die Fahrt storniere. Ich fahre den Computer herunter. Heute ist kein Tag für große Pläne. Ich lege mich mit Virginia Woolf zurück ins Bett, im Zimmer, in dem der Vorhang noch zu ist und das Bett zerwühlt. Bei Spiegel online hieß es heute, fällt mir jetzt ein, „Joshua Greene landete regelmäßig im Bett von Marilyn Monroe“ – als sie seine Babysitterin war. Sexistischer Scheiß. Im Bett lese ich: „Er nahm ihn ihr aus der Hand. Er sagte, das sei ein Hut für das Äffchen eines Drehorgelspielers. Wie sie das erfreute! Wochenlang hatten sie nicht so miteinander gelacht, sich heimlich lustig gemacht wie Eheleute.“ Ich lese, bis ich durch eine Nachricht auf meinem Handy unterbrochen werde: „F. Hat Ihre Mitfahrgelegenheit nicht angenommen. Finden Sie jetzt eine neue Fahrt!“. Ich stöhne, stelle mir einen Wecker und lese weiter.

Um 14 Uhr verlasse ich das Haus. Ich nehme nur eine kleine Tasche mit meinem Buch, Geld und Handy mit, ich laufe zu Fuß und werfe unten auf dem Bürgersteig vor dem Haus wie üblich den Blick hoch zu meinen Fenstern. Sie sind verschlossen. Sie sind dreckig. Ich vergleiche den Grad der Verschmutzung zum ersten Mal mit den anderen Fenstern im Haus. Sie erscheinen mir sauberer. Vor allem die im Erdgeschoss. Die Dame unten im Haus wird es sicher schon bemerkt haben. Auf der Straße am Friedhof streift mich fast ein Jugendlicher, der seine Schritte sehr hart auf dem Boden aufsetzt. Mir erscheinen die Leute heute sehr aggressiv zu sein. Ich frage mich, ob man einander ansieht, politisch verfeindet zu sein. Ist von „politischer Gegnerschaft“ überhaupt noch zu reden zu diesen emotional hochgepushten Zeiten? Oder geht nur noch um persönliche Befindlichkeiten, die grell ausgestellt, von allen Seiten verwertbar gemacht werden, wo mit diffusen Begriffen wie „Volk“ und „Kultur“ agiert wird? Ich hole Geld an der Sparkasse am Martkplatz, ich betrete die Stadtbücherei und leihe mir drei CDs und fünf DVDs aus. Als ich während meiner Suche am DVD-Regal niese, wünscht mir die Bibliothekarin, die in meinem Rücken am Info-Tresen sitzt, „Gesundheit!“. In einem Geschäft mit Holzspielzeug und Kuscheltieren sehe ich mich nach Postkarten um und kann keine finden, die mir als Geburtstagsgeschenk für M. gefällt. Auf der, die am besten abschneidet, die ich aber auch nicht kaufe, soll man im Getümmel eines Unterwasserszenarios einen „Fisch mit Wurm“ und ein „Seepferdchen“ suchen. Ich stehe, bis ich beide gefunden habe, vor dem Kartenständer. Die gutgelaunten Gespräche an der Kasse zwischen Kundin und Verkäuferin sind unerträglich und ich verlasse das Geschäft. Ich bin sofort beschwichtigt, als ich durch die Scheiben eines Friseurgeschäfts einen kleinen Jungen sitzen sehe, dem die Haare in die Stirn gekämmt wurden. Er sitzt auf seinem Stuhl und starrt sehr grimmig in den Spiegel. Seine Beine hängen in der Luft. Schmunzelnd laufe ich weiter. Ich habe noch eine Stunde bis zum Treffen mit H. und setze mich in die Bäckerei, um einen Kaffee zu trinken und zu lesen. Beste Stelle: S. 155 f. Leider zu lang zum zitieren. Mr Walsh bestellt „Barlett Birnen“ und holt sich die Achtung von den Morrisens am Tisch nebenan. Ich kann mich schlechter konzentrieren als beim letzten Mal lesend in diesem Café, zwei ältere Damen reden über Gymnastik („die neue Lehrerin hat sich einfach nicht vorgestellt“) und die Wahl (leider unverständlich), eine Familie redet über den Urlaub („dann hat der den Liegestuhl auf ihre Hand fallen lassen, dann war klar, dass wir da nicht geblieben sind“) und eine Oma unterhält ihre kleine Enkelin, semi-erfolgreich („Und Oma isst…???? Kaffeestreifen!“).

Um kurz vor vier verlasse ich die Bäckerei. Ich bin hellwach durch die Beschreibung einer lebendigen Stadt, aus Peter Walshs Augen, der ganz London, das den Abend, der schon hinweg schwinden will, nochmal festgenagelt, „seine Bajonette zum Himmel“ jagt, zu Clarissa Dalloways Gesellschaft aufbrechen sieht. So ist das also, wenn man im wahrsten Sinne einer Stadt (Hildesheim) entflieht durch Lektüre, denke ich beim Blick auf den trägen Busverkehr vor der Tür und die lahmen, hängenden Gesichter der Leute, die nicht nach ausgehen ausehen, keine „Schnallenschuhe“ an den Füßen tragen, und keine „purpurfarbenen Straußenfedern“ oder „Kämme“ im Haar. „Das Hirn müßte jetzt wach sein“, mutmaßt Walsh, bevor er das Haus betritt, das Taschenmesser aufgeklappt. Fragt sich wie lange das anhält… Ich sehe H. an der Ampel stehend. Wir überqueren die Straße an verschiedenen Stellen, er sieht mich nicht, ich gehe in einem 45° Winkel auf die gleiche Spitze wie er zulaufend (die Post) auch ihm entgegen. Bis er sich umblickt, mich erkennt, lacht. Er muss nochmal in die Postbank. Ich ihm dann Geld leihen, wir laufen also zur Sparkasse, der in der Neustadt, ich sehe die vor einem Buchladen in der Nähe ausgestellten Second-Hand-Bücher durch, H. telefoniert mit seiner Mutter. Wir spazieren den Weg zurück Richtung Hindenburgplatz zu einem Café, auf dem Fahrrad kommt uns einer entgegen, der schon in die andere Richtung uns entgegengekommen ist, ein zweites Mal grüßt er nett, H. kennt ihn. Ich bin nicht sicher, ob ich ihn auch kenne. Im Café ein Kind, das auf einem Bobbycar sitzend gegen die Tür fährt. „Nicht so doll“, mahnt ihn die Mutter. Kurz darauf verlassen sie das Café, der Junge weint, „Its not his day!“, ruft die Mutter, bevor sie das Café verlässt. Ein zweites kleines Kind nimmt das Gefährt sodann in Beschlag, es ditscht ganz leicht gegen zwei Stühle und sieht dabei neugierig zu uns. Seine Lippen sind so blau, dass ich erst denke, es habe einen Schnuller im Mund. „Und jetzt ich!“, sagt H., als es ebenfalls hinten auf dem Rücken der Mutter das Café verlässt. Ich begleite H. zu einem zweiten Café in der Nähe, in dem er ein Arbeitstreffen hat. Eine junge Frau mit rotem Lippenstift steht davor. Sie umarmt ihn und gibt mir die Hand. Ob ich gleich auch dabei wäre. Nein, ich habe H. nur hergebracht, sage ich. „Sie hat mich von der Kasse bei Rewe abgeholt“, lacht H. Die junge Frau geht schon hinein, H. und ich verabschieden uns und planen ein nächstes Treffen. Ich gehe schnellen Schrittes Richtung zuhause, die Straßen sind grau. Ich werde nicht die Fenster putzen, nicht die Vorhänge aufziehen. Auch nicht mehr joggen gehen. Ich koche, lese, gucke Nachrichten, einen Film.

M.O. studiert Kulturwissenschaften in Hildesheim, will in Marseille, mit Weinglas in der einen, Buch in der anderen Hand ihren Lebensabend verbringen.

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